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Sieben Predigten in Nürnberg zu St. Aegydien (2. Auflage)/Reformationsfest

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« Lasset euch versöhnen mit Gott II Wilhelm Löhe
Sieben Predigten in Nürnberg zu St. Aegydien (2. Auflage)
Vom Trost an Sterbebetten »
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Reformationsfest.




Reformation und Bibel, Bibel und Reformation gehören zusammen, meine Lieben. Sie lassen sich nicht von einander trennen, so wenig sich das Saußen vom Winde, Licht und Hitze vom Feuer scheiden lassen. Man kann der Reformation nicht gedenken und die heilige Schrift vergessen, man feiert mit jedem Reformationsfest zugleich ein Dankfest für die heilige Schrift. Wenn das wahr ist, wie könnte man denn das heurige Reformationsfest ohne Andenken der heiligen Schrift begehen, da es doch das dreihundertjährige Jubelfest der deutschen Bibel ist? So weit auf dem Erdkreis evangelische Christen wohnen, erschallen heute die Gotteshäuser von Lob und Dank für die gesegnete Reformation, für die gesegnete deutsche Bibel. Wohlan denn, freuen sich evangelische Christen von fremder Zunge über unsere Bibel, so wollen vielmehr wir in den Jubel der evangelischen Kirche unser Lobgetöne einmischen, die wir von deutscher Zunge sind. Zu Ehren Gottes, der diese schöne Bibelübersetzung Seinem deutschen Volke aus großer Gnade geschenkt hat, predigen auch wir heute von Reformation und Bibel, von Bibel und Reformation. Bereitet eure Herzen, und wer Ohren hat, zu hören, der höre! Und Du, Herr Gott, heiliger Geist, laß Deine| Gnadenkräfte weben hin und her, zwischen Prediger und Hörern! Lege Ehre ein mit Deinem Worte, und laß Dir aus demselben heute und von heute an fort und fort Deine Kinder geboren werden, wie Thau aus der Morgenröthe! Amen.




Jerem. 3, 12.
Kehre wieder, du abtrünnige Israel! spricht der Herr.

 Aus diesem Texte will ich nun, so mir Gott hilft, von einer in unsern Tagen nothwendigen und sehr wohl möglichen Reformation predigen.

 Freilich wird es manchem seltsam vorkommen, daß ich für ein solches Thema diesen Text gewählt habe. Aber meiner Meinung nach paßt dieser Text allerdings, und habe ich zu meinem Thema gar keinen passendern finden können. Vielleicht gelingt es, auch euch davon zu überzeugen. Gott erbarme sich euer und meiner. Amen!

 1. Nichts paßt besser zusammen, als das Wort Reformation und unser Text: „Kehre wieder!“ denn die Reformation war eine Wiederkehr – und so lange die Welt steht, kann eine rechte Reformation auch nichts anderes seyn, als eine Wiederkehr, eine Rückkehr. Selbst das lateinische Wort Reformation sagt im Grunde nichts anderes aus. Freilich ist das Wort Rückkehr vielen sehr verhaßt: die Wörter „vorwärts“, „Fortschritt“ sind in unserer Zeit beliebter, ein Jeder sucht das Heil im Fortschreiten und in der Zukunft. In der That und Wahrheit aber liegt das Heil in einer Rückkehr. Man muß nur nicht gerade an eine Rückkehr zu alter, überstandener Thorheit, zu abgelebtem Aberglauben denken. Von einer solchen ist keine Rede, überhaupt nicht von einer Rückkehr zu irgend etwas Menschlichem; sondern eben zu dem, zu welchem der Prophet Jeremias sein Volk gerne zurückgeführt hätte, wenn er sprach: „Kehre wieder, Israel!“.| Kehre wieder, heißt das, zu deinem Gott, und weil du Den nicht mit Augen sehen kannst, so kehre zurück zu Seinem Worte. Denn im Worte kommt der Höchste einhergefahren, Menschenseelen heimzusuchen. – Hat man dieß recht verstanden, so wird es auch Jedermann in der Ordnung finden, wenn ich behaupte, die Reformation ist eine Rückkehr, nämlich zu Gottes Wort.

 Zur Zeit Josia, des Königs Juda, war das Volk und der Tempel Gottes mit allerlei Götzendienst verunreinigt, die heilige Schrift aber, ihre Gebote und Verheißungen waren von der Richter Zeiten her so ganz vernachläßigt und vergessen, daß die Israeliten das Gesetzbuch Gottes gar nicht mehr kannten. Da fand der Hohepriester Hilkia das Gesetzbuch des Herrn im Tempel und ließ es vor den König bringen. Der König aber erschrak und entsetzte sich sehr, denn er erkannte den großen Unterschied zwischen den Geboten des Buches und dem Leben und Gottesdienst seines Volks. Da fieng er an, zu reformiren, that allen falschen Gottesdienst und Götzendienst ab, führte den im Gesetz gebotenen wieder ein, und feierte seit der Richter Zeit zum erstenmale wieder das Passahfest des Herrn. 2 Kön. 22. – Was war nun diese Reformation Josia’s anders, als eine Heimkehr zu Gottes Wort? Er that, was unser Text gebietet: „Israel, kehre wieder!“

 Gleichfalls, da unter Esra und Nehemia Gottes Volk aus der Gefangenschaft zurückgekehrt war, versammelte es sich einst auf einer Straße Jerusalem’s, eine Kanzel ward erbaut, Esra, der Schriftgelehrte bestieg sie, und las dem Volke aus dem Gesetzbuche vor, laut, daß es alle vernehmen konnten. Da nun das Volk die Gesetze des Herrn hörte, fingen sie alle an, laut zu weinen und wollten sich nicht trösten lassen; denn nachdem sie in der Gefangenschaft gedemüthigt waren, erkannten sie die Wege des Herrn und ihre Uebertretungen aus Seinem Gesetze, ehe sie aber gedemüthigt waren, irrten sie. Des andern Tags| kamen die obersten Väter, dazu die Priester und Leviten zu Esra, dem Schriftgelehrten, und wollten das Gesetz lernen, – und da es gerade der siebente Monat war, und sie im Gesetze fanden, daß der Herr im siebenten Monat das Laubhüttenfest geboten hatte, gingen sie eilend hin, und feierten dem Herrn Laubrüst, und richteten sich im Leben und Gottesdienst forthin nach Gottes Wort. Neh. 8. Was war das anders, als eine Reformation und Rückkehr zu Gottes Wort, nach dem Sinn des heiligen Sängers Ps. 119, 59., welcher spricht: „Ich betrachte meine Wege und kehre meine Füße zu Deinen Zeugnissen!“ – nach unsern Textesworten: „Kehre wieder, Israel!“?
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 Eben so ist es mit der Reformation des deutschen Volkes. Die Welt war von Gottes Wort abgewichen, neue Pharisäer waren aufgekommen, die ihre Menschensatzungen höher achteten, als Gottes Gesetz und Evangelium, Gottes Wort war theuer im Lande: die Priester wußten’s nicht, was sollte man vom Volke erwarten? Da nahm der Herr Herr einst Seinen Knecht Luther bei der Hand, und führte ihn zu Seinem uralten, ewigen Wort, und Luther las, verwunderungsvoll, daß solch’ himmlisches Licht den Menschenkindern gegeben ist. Noch war die heilige Schrift für das Volk ein Licht unterm Scheffel; aber der Herr setzte es als eine stille Lampe in die Kammer Luther’s, und gab ihm in Verborgenheit die Kräfte der zukünftigen Welt aus diesem Wort zu trinken, daß er davon trank und stark ward, wie ein Held. Was ihm der Herr im Kämmerlein in’s Ohr gesagt hatte, das predigte Luther hernach auf den Dächern. In demselben Jahre, in welchem er die 95 berühmten Sätze anschlug, übersetzte er die sieben Bußpsalmen, und gab sie mit herzlicher Vermahnung hinaus. Als im Jahre 1521 Kaiser und Reich sammt Papst und Priestern dem aufwachenden Leben der Kirche den Tod geschworen hatten, nahm der Herr den| Mann Luther und setzte ihn auf die einsame Wartburg, daß er daselbst durch Übersetzung des Neuen Testamentes Gottes unüberwindliches Schwerdt seinem deutschen Volke zurichten sollte. Den Mann Luther mochte die Welt nicht leiden, da bot ihm der Herr Sein heiliges Wort zur Rettung an, Luther mußte auf der Wartburg ein Friedensfeuer, das Evangelium des Friedens anzünden, damit das deutsche Volk das Feuer vom Himmel sähe und in seinem Lichte wandeln lernte. Von 1522 bis 1534 übersetzte Luther das Alte Testament und im letzten Jahre wurde die ganze Bibel gedruckt. Mit dieser heiligen Schrift, in edler, unübertrefflicher, schöner deutscher Sprache hingestellt, war den Feinden Gottes und Seines Evangeliums der Sieg entrissen. Alles machte sich auf aus Babel, aus dem weit verbreiteten Irrthum, und kehrte zurück zu Gottes Wort. Der Herr hatte Deutschland gesegnet in der deutschen Bibel – mehr als alle andern Völker der Erde, und Deutschland erkannte die Wohlthat seines Gottes. Seitdem ist die evangelische Kirche fest gegründet auf dem heiligen Berge. Luther stimmte das Lied an, und die Kirche singt’s in vollen Chören seit 300 Jahren nach:

Das Wort sie sollen lassen stahn
Und kein Dank dazu haben.
Er ist bei uns wohl auf dem Plan
Mit Seinem Geist und Gaben.

 Erkennt ihr nun, liebste Seelen, daß auch die Reformation der deutschen Kirche eine Rückkehr zu Gottes Wort gewesen ist? Sehet ihr nun, wie wohl insofern unser Text zu unserm Feste paßt?

 2. Indeß keineswegs allein darum habe ich den genannten Text gewählt, daß ich euch an demselben nachwiese: „die Reformation Luthers ist eine Rückkehr zum göttlichen Wort.“ Vielmehr wende ich ihn nun auf euch selber an und rufe euch mit den Worten des Propheten zu: „Israel, kehre wieder!“ und im Namen des ewigen| Bräutigams Jesu, mit Seinen Worten im hohen Liede, Cap. 6, 12., predige ich euch: „Kehre wieder, kehre wieder, o Sulamith, kehre wieder, kehre wieder!“ Ja, zu einer ernsthaften Rückkehr zu Gottes Worten, oder, was nach der gegebenen Erklärung dasselbe ist, zu einer heiligen Reformation rufe ich euch Alle, und jedes Einzelne von euch allen auf! – Ihr wundert euch, daß ich eine solche Sprache führen mag? Aber, Brüder, Schwestern, es ist mein voller, im Herrn erwogener Ernst, – ja, ich getraue mich am jüngsten Tage mehr noch zu verantworten, ich getraue mich, zu sagen: es ist des Herrn Zebaoth höchst eigener Wille und Befehl, daß wir wie Luther und unsere Väter zurückkehren zu Gottes Wort und reformiren. Denn es ist höchst, höchst nothwendig.
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 Wahr ist’s, daß kein Volk auf dem Erdboden so von Gott begnadigt ist, wie Deutschland, denn in unsrer Mitte stand der Mann Gottes Luther auf, und kein Volk kann sich rühmen, Gottes Wort so hell und allgemein verständlich, so gewaltig und herzergreifend in seiner Sprache zu haben, wie wir. Deutschland ist gleichsam Gottes auserwähltes Volk und neutestamentisches Israel. Uns ist viel Gnade widerfahren, aber lasset es uns nur nicht verhehlen, lasset uns nur mit Daniel, Cap. 9, niederfallen, und wie das Volk Israel zu Esra’s Zeiten, weinend vor unserm Gott bekennen: „Wir, unsere Könige, unsere Fürsten und unsere Väter müssen uns schämen, daß wir uns an Ihm versündigt haben. Wir sind abtrünnig geworden und gehorcheten nicht der Stimme des Herrn, unsres Gottes, daß wir gewandelt hätten in Seinem Gesetz, welches Er uns vorlegte durch Seine Knechte, die Propheten; sondern das ganze Israel übertrat Dein Gesetz und wichen ab, daß sie Deiner Stimme nicht gehorcheten.“ Wir haben uns verführen lassen von benachbarten Völkern und des Abweichens so viel gemacht, daß nicht zu sagen ist. Gottes Wort ist bei sehr Vielen in unserer Zeit so verachtet, daß| man es gar nicht mehr für Gottes Wort hält. Am Ende des vorigen Jahrhunderts ist es so weit gekommen, daß, ich schäme mich, es zu sagen, daß in der evangelischen Kirche geborene, deutsche Männer ihre mühsam erworbenen Kenntnisse, Geschicklichkeiten und Fertigkeiten in den Dienst des Bösewichts begaben, die heiligen Schriften zu bestreiten und zu behaupten, sie seyen nicht von Gott. Da die Weisen also vom Geist der Verläugnung hingerissen waren, ging derselbe Geist der Verläugnung von ihnen auf das Volk über und sein Same ist nun unter Bürgern und Bauern schauderhaft wuchernd aufgegangen. Ehedem war die evangelische Kirche der Haufe derjenigen, denen Gottes Wort das Theuerste und Liebste war. Nun gibt es in ihr Menschen jeden Standes, die sich schämen, gleich ihren Vätern am Morgen und am Abend Licht und Leben aus Gottes Wort zu holen: es giebt Familien, bei denen Monden und Wochen verstreichen, ohne daß man’s der Mühe Werth hält, einen Bibelspruch anzusehen, Familien, die alles kennen, haben und begehren, nur nicht Gottes Wort. Man findet Menschen, die es zum Gegenstand ihrer Ruhmredigkeit machen, wenn sie Jahre lang, ja, seit dem Tage ihrer Confirmation die heilige Schrift nicht mehr angesehen, oder, wie sie es nennen, gebetet haben. An vielen Orten folgt denen Achtung nach, welche die Gabe ihres Witzes und ihre Lust zu Hohn und Spott an Gottes Wort üben. Das geschieht in der evangelischen Kirche, so vertheidigen die meisten ihrer Kinder das von den Vätern ererbte, theure Kleinod! Den Grund der Apostel und Propheten achten sie für Sand. Den Stein, welchen der Herr Herr selbst zum Eckstein gemacht hat, verwerfen sie, gleich jenen Bauleuten, abermals. Die Standarte ihres Königs Jesus, das unvergängliche, ewige Wort, behandeln sie mit Ekel und die eitle Weisheit der Zeit, die gleich dem Grase blühet und verwelkt, gleich dem Winde spurlos kommt und geht, die ehren sie, als wäre sie der menschgewordne Gott. So| ist’s unter den Kindern geworden, deren Väter vor Jammer fast in die Erde gesunken wären, wenn man ihnen das vorausgesagt hätte! Wenn Luther aufstände von den Todten und den Unglauben sähe, der in der evangelischen Kirche eingerissen ist, welche der Herr einst durch seinen Dienst auf’s neue aufgerichtet hatte: ich glaube, er würde eine Geißel, nicht aus Stricken, aber aus Gottes Worten flechten, und die Sünde und Abweichung des deutschen Volkes schlagen, daß der Schall davon bis jenseits deutscher Grenzen gehört würde! Nun aber ist sein Grab stumm und unser Elend ihm verborgen. Aber der Herr im Himmel sieht es, der da spricht, Jer. 2, 12. 13.: „Sollte sich doch der Himmel davor entsetzen, erschrecken und sehr erbeben. Mein Volk thut eine zwiefache Sünde: mich, die lebendige Quelle, verlassen sie und machen ihnen hie und da ausgehauene Brunnen, die doch löchericht sind, und kein Wasser geben.“
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 Und ich sollte Unrecht haben, wenn ich behaupte, es sey eine Rückkehr zu Gottes Wort und Reformation nöthig? Freilich nicht eine Reformation der Lehre; denn reiner ist keine Lehre nach der heiligen Schrift, als die der evangelisch-lutherischen Kirche in ihren Bekenntnißschriften; aber eine Rückkehr und Reform der Herzen zu der Wahrheit dieser Lehre und des Wortes Gottes. Ja, es ist nothwendig, daß man zurückkehre mit Herz und Leben zu Gottes Wort: Lehrer und Schüler, Prediger und Zuhörer allzumal sollten sich aufmachen, die lebendige Quelle wieder zu suchen. Denn was das Ende davon ist, wenn Gottes Wort verlassen wird, welche Folgen es bringt, das wird von Tag zu Tag offenbarer. Es hat auch hieher das Wort eine Bedeutung: „Er trägt alle Dinge mit Seinem kräftigen Wort.“ Wenn Gottes Wort nicht mehr die Herzen, das Leben und Weben und alle Verhältnisse durchdringt und trägt, dann fällt Alles dahin, wie ein Leichnam, wenn ihm die Seele entflohen ist. Seitdem Gottes| Wort nicht mehr in den Herzen waltet und regiert, gibt es der trostlosen und verzweifelnden Seelen so viele, und mit Schrecken sieht man, wie immer mehr und mehr bei dem Jammer der Zeit und den Anklagen ihres Gewissens im Selbstmord Ruhe suchen; weil sie die Ruhe des gnadenreichen Gottes nicht kennen. Seitdem Gottes Wort nicht mehr in den Häusern heimisch ist, sind die Häuser unheimlich geworden: welch’ eine Zerrissenheit sich in ihnen findet, wie die heiligste Bande nichts geachtet, die Kinder ohne Gott aufgezogen werden, wie keine Tugend mehr ist, in der Jugend, weil die Jugend nicht mehr von Gottes Wort getragen wird: das ist unter euch Allen bekannt; die Gewissen Vieler unter euch werden mir recht geben, und mancher Seufzer in der Brust meiner Zuhörer mag es mit mir herzlich beklagen, daß es also steht. – Eben so ist es mit den Staaten. Alles Unglück der Staaten, welches in neuerer Zeit ausbrüchig geworden ist, hat seinen Grund in der Verachtung des göttlichen Worts. Die Sünde ist der Leute Verderben: wie sollte denn die größte Sünde, die Verachtung des göttlichen Wortes, nachdem sie fast allgemein geworden ist, nicht das Verderben der Völker nach sich ziehen? Die Welt ist durch Verachtung der heiligen Schrift zum Ruin gekommen, die Zeiten sind allerdings schlechter geworden, als jede andere Zeit zuvor gewesen, und unsere Klagen überwiegen die Klagen unserer Väter. Wenn nicht einzelne Menschen und ganze Familien umkehren zu Gottes Wort, ihre Liebe abkehren vom Wesen der Welt und also von innen heraus zu den Vätern sich bekehren, und zum Gott der Väter, so ist keine Hülfe mehr vorhanden für die untergehende Welt, Gottes Wort wird zurückkehren in den Himmel, von wannen es gekommen ist, und die Erde wird zur Hölle werden. Denn wo Gottes Wort nicht ist, da ist die Hölle.
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 Wenn also der Herr Israel abtrünnig nennt, und Ihm darum die Nothwendigkeit nahe legt, Seinem Rath:| Kehre wieder! zu folgen; so ist diese Notwendigkeit bei uns noch dringender, weil wir viel abtrünniger und darum viel elender geworden sind, als Israel.

 3. So ist denn unsere Kirche gleich jenem Felde voll Todes und Todtengebeine, welches einst Ezechiel im Geiste sah, und wir müssen für sie seufzen: ach, daß eine Hülfe aus Zion käme, daß eine Hand eingriffe, die über alles mächtig ist, und den Einsturz aufhielte! Und dem Herrn sey ewig Preis und Dank: obwohl die Sünde mächtig geworden ist, so ist doch die Gnade noch viel mächtiger, und wie Israel die Möglichkeit noch blieb, zurückzukehren, so steht auch uns die Thür noch offen. Zu Israel spricht der Herr noch in dem Verse unseres Textes: „Ich will mein Antlitz nicht gegen euch verstellen“; sollten dieselbigen Worte nicht auch für uns gelten, die wir wissen, daß Gott in Jesu Christo Allen versöhnt ist? Ist nicht schon der Befehl: „Kehre wieder!“ der jeden Abtrünnigen angeht, Beweis genug, daß noch eine Möglichkeit zur Rückkehr vorhanden ist? oder sollte der Herr Seinem Volke einen Weg zum Heil gebieten, und ihnen unmöglich machen, denselben zu gehen? So lange noch Gottes Wort in der Kirche ist, so lange die heilige Schrift noch nicht weggenommen ist, so lange steht die Thür zur Rückkehr noch offen. Seine Worte vergehen nicht, kein Feind konnte sie austilgen; so vergeht auch Seine Treue nicht, und Seine Hülfe ist nicht verschwunden. Der Bund Seines Friedens weichet und wanket nicht, und Seine Gnade fällt nicht hin, wenn gleich Himmel und Erde wanken, fallen und vergehen.

 Brüder, der alte Gott lebt noch, der alte Gott der Gnaden, voll Demuth und Anbetung Seiner Herrlichkeit: lasset uns Seinen Befehl vollziehen, wieder heim zu kehren zu Ihm! Der alte Jesus lebt noch; die Thür, durch welche unsere Väter zum ewigen Leben gingen, steht auch uns noch frei: lasset uns da hinein gehen, daß wir mit| Freuden versammelt und erfunden werden unter Seinem Volke! Der alte ewige Geist des Herrn Herrn, welcher in unsern Vätern den Glauben an Gottes Wort entzündet hat, auch unter uns weht er noch, um uns zu dem einzig wahren Glauben unserer Väter zu versammeln. Die alte Kirche, welcher der Herr ein unsterbliches Leben bis an der Welt Ende verheißen hat, welche auch von der Höllen Pforten nicht überwunden werden kann, auch sie ist nicht ausgestorben, so gering, so fast unsichtbar sie geworden ist. Noch hat der Herr eine kleine Heerde, welche der Gemeinschaft der Heiligen sich freut, bei welcher noch Bruderliebe gefunden wird. Zu ihr kehre sich Jedermann, der nach Liebe hungert und nach Gemeinschaft im heiligen Geist. Noch steht über uns der alte Himmel, d. i. die alte Hoffnung, dereinst nach dem Streite zur Ruhe Gottes zu kommen. Die Säulen unserer Hoffnung werden nicht wanken, bis die Säulen des Himmels wanken: ja wenn des Himmels Säulen wanken, dann wird auch unsere Hoffnung wanken, aber nur um einem ewigen und seligen Haben Platz zu machen. Der die Schlüssel Davids hat, und alleine öffnen und schließen kann, hat noch nicht zugeschlossen, und die eilfte Stunde der Welt ist noch im Laufe, für viele müßige Arbeiter ist noch Eingang möglich. Der Herr selbst geht umher, einzuladen und einzuführen in Sein Reich, Sein Reich in uns anzufangen und zu vollenden.




 Ja, weil denn die Rückkehr noch möglich, vom Herrn erleichtert und geboten ist, so lasset uns zurückkehren zu Ihm! Ist es gleich beschämend für den verlornen Sohn, in seinem Elend zu seinem Vater zurückzukehren, so ist doch für ihn keine andere Möglichkeit der Rettung da. Er mußte sich demüthigen, dafür wurde ihm die Freude der Versöhnung zu Theil. Er erschien vor dem Vater als ein Tagelöhner, aber er fand die Kindschaft wieder. In des Vaters| Armen vergaß er alle Mühsal der Verirrung, und wer zu Gott und Seinem Wort zurückkehrt, der findet mitten im Jammerthal der Welt, unter dem allgemeinen Ruin das Glück der Väter wieder, welches ist: Gerechtigkeit, Friede und Freude im heiligen Geist. Das Fest der deutschen Bibel feiern wir: besser können wir’s nicht feiern, als wenn wir zur Bibel selbst zurückkehren. Ein Hausvater stelle sich heute in die Mitte der Seinen, und spreche, die Bibel in der Hand, mit zu Gott gerichteten Augen und empor gehobener Seele: „Ich und mein Haus wollen dem Herrn dienen!“ Wer das thut, hat Gott am besten und seligsten geehrt, ist vor Gott ein Reformator, und wird eines Reformators Lohn empfangen. Wenn Jeder sich und sein Haus reformirete, ein Jeder sammt seinem Hause zurückkehrete zu dem alten Gottes-Worte, dann würde die Zeit der Reformatoren lieblicher wiederkehren, als sie einst gewesen ist, aus dem Worte Gottes würde eine apostolische Gemeinde, wie Thau aus der Morgenröthe, geboren werden, und der ewige Bräutigam würde freudenvoll jauchzen: „Der Winter ist vergangen, der Regen ist weg und dahin, die Blumen sind hervorgekommen im Lande, der Lenz ist herbeigekommen und die Turteltaube läßt sich hören in unserm Land. Der Feigenbaum hat Knoten gewonnen, die Weinstöcke haben Augen gewonnen, und geben ihren Ruch, stehe auf, meine Freundin, und komm!“ Hohes Lied 2, 11–13.

 Herr, in Deiner Hand steht es, zu geben Israel Buße und Vergebung der Sünden, gib unsern Augen zu schauen das Gute Jerusalem’s im Lande der Lebendigen! Amen.






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Sieben Predigten in Nürnberg zu St. Aegydien (2. Auflage)
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