Semnon und das Orakel
Sein künftig Schicksal zu erfahren,
Eilt Semnon voll Begier zum delphischen Altar.
Die Gottheit weigert sich, ihm das zu offenbaren,
Was über ihn verhänget war.
Doch wirds dein Unglück seyn, sobald du es wirst wissen.
Ist Semnons Neugier nun vergnügt?
Nichts weniger! Nur mehr wächst sein Verlangen.
O Gottheit, fährt er fort, wenn Bitten dich besiegt:
So traut der Mensch, und traut zugleich auch nicht.
Ein Semnon glaubt sein Glück, nicht, weils die Gottheit saget,
Nein, weil ers schon gewünscht, eh er sie noch gefraget.
Doch glaubt er auch, wenn sie vom Unglück spricht?
Durch Klugheit denkt er schon das Unglück abzuwehren.
Kurz, Semnon läßt nicht nach, er will sein Schicksal hören.
Du wirst, hub das Orakel an,
Durch deines Weibes Gunst den Zepter künftig führen,
Dereinst durch einen Wink regieren.
Eilt, der als Pilgrim kam, als Prinz, in Hoffnung fort;
Mißt, ohne Land, im Geist schon seines Reiches Größen;
Allein so froh er war, so war ers nicht genug.
Er weis noch nicht, was er doch wissen wollte,
Die Zeit, in der sein Fuß den Thron besteigen sollte;
Die Ungewißheit wars, die ihn noch niederschlug.
Wie lange währt alsdann mein königlich Vergnügen?
Der kühne Zweifel treibt ihn an.
Zum delphischen Apoll sich noch einmal zu nahn.
Verbarg der Götter Schluß die Zukunft eurem Blicke.
So wisse denn: in kurzer Zeit
Schmückt dich des Purpers Herrlichkeit;
Doch raubt die Hand, die dir den Thron gegeben,
Er that darauf im Kriege sich hervor,
Und stieg, aus einem niedern Stande,
Zur höchsten Würd im Vaterlande
Durch seine Tapferkeit empor.
Erfüllte des Orakels Sinn;
Und Semnon ward, bey immer größerm Glücke,
Der Liebling seiner Königinn.
Sie schenkt ihm Herz und Thron; doch ein verborgnes Schrecken
Sein reizendes Gemahl, das er halb liebt, halb scheut,
Erfüllt ihn halb mit Frost, und halb mit Zärtlichkeit.
Itzt wünscht er tausendmal, sein Schicksal nicht zu kennen,
Um so für sie, wie sie für ihn, zu brennen.
Sie zieht ihn in Verdacht mit einer Buhlerinn,
Sie giebt ihm heimlich Gift; Er stirbt vor ihren Füssen.
Sagt, Menschen, ists kein Glück, sein Schicksal nicht zu wissen?