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Selbstbekenntnisse eines Schwerverwundeten

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Textdaten
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Autor: G. Hth.
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Titel: Selbstbekenntnisse eines Schwerverwundeten
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 43, S. 672–674
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Georg Hirth, der erste Verwundete der Schlacht bei Langensalza und seine Wiederherstellung
Erinnerungen aus dem letzten deutschen Kriege Nr. 3
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Erinnerungen aus dem letzten deutschen Kriege.
3. Selbstbekenntnisse eines Schwerverwundeten.

Wo wäre in den letzten Monaten die deutsche Zeitung gewesen, die nicht wieder und immer wieder zu berichten gehabt hätte von den furchtbaren Opfern, welche der jüngste gewaltige Krieg gefordert? Wo das Blatt, das nicht erzählt von den Schmerzen der armen zerschossenen, zerhauenen, zerstochenen Krieger auf der Wahlstatt, auf dem Transport, im Lazarethe, unter den sondirenden und operirenden Händen der Aerzte und ihrer Gehülfen? Alle diese langen Leidenscapitel sind von Gesunden, von Aerzten und anderen Zeugen des Jammers geschrieben worden, – von den Verwundeten selbst ist unsers Wissens, außer durch einzelne Privatbriefe, keine Schilderung ihrer Leiden in die Oeffentlichkeit gekommen. Und doch können diese allein sagen, wie es ihnen auf den Marterbetten um’s Herz gewesen ist, was sie da erduldet, gefürchtet und gehofft, wie sie gezweifelt haben und oft genug verzweifelt sind. Deshalb werden gewiß alle unsere Leser mit Interesse und Theilnahme den nachstehenden Seiten folgen, in denen zum ersten Mal ein Verwundeter, zugleich der erste Blessirte im mörderischen Kampfe zwischen Hannoveranern und Preußen, der in weiten Kreisen bekannte Redacteur der Allgemeinen Deutschen Turnzeitung, Georg Hirth, seine Erlebnisse und Schicksale, seine Erfahrungen und Empfindungen auf einem monatelangen schweren Krankenlager zu Nutz und Frommen seiner Leidensgefährten darstellt.


Mein Leiden begann, als ich jenes verhängnißvolle Briefchen mit der Aufschrift „Ordre“ bekam. Rasch hatte ich meine Angelegenheiten in dem mir lieb gewordenen L. geordnet. Eine Nachtfahrt per Dampf brachte mich in meinen Heimathsort Gotha. Um neun Uhr Morgens „stellte“ ich mich in der Caserne, ward von Neuem für körperlich tauglich befunden und mit der ganzen zum Morden und Todtschlagen erforderlichen Ausrüstung versehen.

Mehrere Tage lang „suchten“ wir die Hannoveraner. Endlich graute der Morgen des 27. Juni. Unser Regiment hatte die Nacht über auf einem Wiesengrunde bei dem Dorfe Westhausen campirt. Gegen acht Uhr Generalmarsch. Unsere Compagnie eröffnete den kriegerischen Reigen, der sich nun in scharfem Marschtempo, einhundertundzwanzig per Minute, gen Langensalza bewegte. Bis eine Stunde vor der Stadt ist die Chaussee von Längenthälern und sanft aufsteigenden Höhenzügen quer durchschnitten. Auf einem der letzteren liegt, dicht an der Straße, der Ort Henningsleben; hier hatte ein Theil der hannoverschen Armee noch kurz vor unserem Nahen gelagert.

Unsere Artillerie gab das Zeichen zum Angriff: in weiten Bogen schwirrten ihre Bomben über unsere Köpfe und die Henningsleber Höhe hinweg dem sich zurückziehenden Feinde nach. Wir marschirten jetzt, das „Gewehr zur Attaque rechts“, in langgestreckter Linie zu beiden Seiten der Chaussee auf die Höhe zu, fanden aber nur noch Lagerüberbleibsel, Fässer, Strohzelte, weggeworfene Tornister und Tschakos, ja sogar einige Cavaleriesäbel. Jetzt war die letzte Anhöhe zurückgelegt; Langensalza lag vor uns, aber vom Feinde war nichts zu sehen. Da – etwa noch fünf- bis sechshundert Schritt vor der Stadt, knatterte es auf einmal, eins, zwei, drei Kugeln hörten wir um unsere Köpfe durch die Luft pfeifen. Sie kamen zweifelsohne aus Büschen und Staketen, die sich links von der Chaussee hinzogen. Das Feuer wurde lebhafter, wir machten lange Hälse, um die unsichtbaren Schützen zu sehen. „Wirst Du auf Einen schießen,“ sprach ich zu mir, „wenn er Dich nicht selbst bedroht? Vielleicht hat er Frau und Kinder zu Haus, und dann – was hat er Dir gethan? die da unten, unsere hannoverschen Brüder, schießen gewiß absichtlich über unsere Köpfe weg und“ – krach, da schlug’s wie mit einem schweren Schmiedehammer auf meinen rechten Oberschenkel, ich brach taumelnd zusammen und schrie unwillkürlich laut auf. Aber in demselben Augenblicke war die Besinnung da: mein Bein war entzwei, das mußte wieder geheilt oder – abgenommen werden; dazu bedurfte es guter Pflege, und deren war ich sicher, ich brauchte mich ja nur zu der Familie meines liebsten Jugendfreundes in der Stadt schaffen lassen. Ich ließ mich von Cameraden in den Chausseegraben legen, wo ich immer noch den hannoverschen Kugeln ausgesetzt war, und, da das vorbeiziehende Kriegsvolk viel lästigen Staub aufwirbelte, mit meinem Mantel bedecken. „Da, schon Einer todt?“ rief ein Landwehrmann, und ich antwortete ihm lächelnd: „Noch nicht ganz.“ – „Nun, denn heile man jut“ und, „Gut Heil“ tönte es aus den dichten Reihen, die bald genug gelichtet werden sollten.

Ein preußischer Stabsarzt kam und legte mir einen Nothverband an. Die Blutung war nicht arg. Das Geschoß war eine kleine Spanne unterhalb der Leistendrüsen in den Schenkel eingedrungen und hatte sowohl in der Hose als in der Haut nur eine kleine Oeffnung gemacht. Auf mein Befragen sagte mir der Arzt, daß der Knochen etwas weiter oberhalb gebrochen, wo nicht zersplittert, daß eine Amputation nicht unbedingt nothwendig sei und daß das Geschoß im hintern Theile des Schenkels, dicht unter den Gesäßmuskeln zu sitzen scheine. In der That fühlte ich hier etwas wie ein Beutelchen. Menschenfreundliche Civilisten hatten unterdessen für einen Leiterwagen gesorgt. In ziemlich barbarischer Weise wurde ich hinauf und, als er vor dem Hause meiner Freunde hielt, heruntergehoben. Das Erstaunen der Familie, mich so wieder zu sehen, war nicht gering, größer aber alsbald das Bestreben, mir meine Lage so angenehm wie möglich zu machen.

Während ich nun, der beengenden Uniform entkleidet, auf dem Bette lag und meine Wunde fortwährend mit Kaltwasserumschlägen belegt wurde (Eis, das besser gewesen wäre, gab’s nicht), tobte draußen das Getöse der Schlacht. Die Wände erzitterten von dem Donner der Kanonen, deren Geschosse jeden Augenblick zu uns eindringen konnten. Um mich vor den gefährlichen Gästen möglichst zu schützen, wurde ich in einen Gang in der Mitte des Hauses geschafft. Um sechs Uhr Abends war Alles ruhig, die alte hannover’sche Einquartierung, wenige Gebliebene ausgenommen, kehrte bei uns ein; ich hatte nun Muße, über mein Pech nachzudenken. Da lag ich also mit einer Schußfractur des Oberschenkels. „Leichtverwundet“ las ich später neben meinem Namen in der Verlustliste unsers Regiments; die Folge zeigte mir leider, daß ich schwer genug verwundet war. Der Arzt, der mich so ohne Weiteres für leichtverwundet ausgab, hätte wissen müssen, daß z. B. im Krimkriege etwa sechszig bis siebenzig Procent meiner speciellen Leidensgefährten unterlegen waren und daß die so Verwundeten am meisten der Eitervergiftung (Pyämie) ausgesetzt sind. Je weiter nach dem Rumpfe zu aber die Fractur des Knochens stattgefunden, desto gefährlicher ist der Fall; bei mir war der Bruch nur zwei Zoll vom sogenannten Rollhügel (Trochanter) entfernt, das obere Fragment war nur ein kurzer Knochenstummel, der jeder Bewegung des Oberkörpers folgte.

Am andern Tage, der die Capitulation des Königs Georg brachte, Vormittags kam – seit dem Nothverbande im Felde – die erste ärztliche Hülfe. Ein hannoverscher Arzt schnitt mir das Bleigeschoß so geschickt und schnell aus, daß ich großes Zutrauen zu dem schönen, hohen Manne mit der riesigen Studentenquart auf dem linken Backen gewann. Was er mir lächelnd vorzeigte, war ein Stück Blei von der Form eines österreichischen Guldens, mit scharfen, zerrissenen Rändern, in welches ein Stückchen Hosentuch fest eingeklemmt war. Ich hätte das Ding nicht gleich vergnügt bei Seite legen sollen: eine Vergleichung mit einem hannoverschen Original-Spitzgeschoß hätte schon damals klarstellen müssen, daß noch ein gutes Stück Blei irgendwo in meinem Bein steckte. So einfache Betrachtungen sollten doch niemals versäumt werden, namentlich nicht in den ersten vierundzwanzig Stunden nach der Verwundung, wo Operationen an dem verwundeten Körpertheile noch nicht durch Geschwulst, Wundfieber und erhöhte Reizbarkeit schwierig und gefährlich werden.

Am dritten Tage übernahmen meine Behandlung zwei Civilärzte, die von auswärts zu Hülfe gekommen waren, denn wir lagen unser weit über eintausend Verwundete in Langensalza. Mit vollen Segeln war ich bereits in die erste und traurigste Periode meiner Leiden hineingesteuert, die ich wohl kurzweg „sentimentale“ nennen kann. Fortwährend fieberhafte Aufregung, schlaflose Nächte mit peinigenden Phantasien, eine oft zu ärgerlichen Ausfällen gegen meine Umgebung ausartende Ungeduld und Gereiztheit und doch auch häufig eine christliche Ergebung in mein Geschick. Ich befand mich in einem Chaos von Stimmungen. Wenn die barmherzige Schwester, die mich anfangs pflegte, an meinem Lager stand und mich tröstete, oder wenn ich so still für mich hin eine Melodie pfiff, die mich an vergangene, in froher Jugendgemeinschaft [673] verlebte Stunden erinnerte, dann traten mir wohl Thränen in die Augen und ich konnte mich trüber Todesahnungen nicht erwehren. Und die Welt, von der ich nur ein kleines, frisch grünendes Stück durch die Fenster sehen konnte, ich träumte sie mir paradiesisch schön und rein. Alles war Sehnsucht, und ich wußte nicht, wonach.

Aber beim düstern Scheine des Nachtlichts quälten mich garstige Phantasien. Morphiumpulver halfen nur auf Stunden. „Zieht doch mein Bein aus dem Kanonenrohre heraus und schafft die ganze Batterie da weg, aber der Fuß muß ‘runter, sonst geht das Bein nicht aus dem Rohre,“ so bat und forderte ich, als mein Bein in einem schweren Gypsverbande lag, der mich mit seinen obern Kanten wund rieb. Versuche, das vermeintliche Kanonenrohr selbst zu entfernen, machten mir natürlich heftige Schmerzen und brachten mich zur Besinnung. Die schmale Diät, die mir auferlegt war, vermehrte selbstverständlich den Zustand physischer und psychischer Schwäche. Charakteristisch für diese Wassersuppenperiode war die Freude, die ich über jede Neuerung in der ärztlichen Behandlung meiner Wunde hatte. Wie ein Schiffbrüchiger, der sich an jeden schwimmenden Balken anklammert, so hoffte ich von jeder neuen Bandage Rettung. Und wirklich hatte ich das Vergnügen, so ziemlich die ganze Scala von Vorrichtungen kennen zu lernen, die der menschliche Scharfsinn zur Heilung gebrochener Oberschenkelknochen erfunden hat.

Am fünften Tage wurde das noch immer mächtig angeschwollene Bein gedehnt – eine schmerzhafte Procedur – und in eine horizontale Blechrinne gelegt. Drei Tage später wieder Dehnung mit obligatem Knirschen und Knacken des zersplitterten Knochens und Anlegung eines schweren Gypsverbandes, der von der Ferse bis unter die falschen Rippen reichte. An diesen Kalküberzug werde ich mein Leben lang denken! Die Geschwulst des Beines nahm darin freilich ab, dafür gewannen aber in der schlotterigen Hülle die beiden Knochenfragmente beliebigen Spielraum zu Reibungen und Stauungen, die mir viel Leids verursachten. Für die Schußwunde war ein Loch in den Gypsmantel geschnitten, die Eiterung wurde hier bald so stark, daß ich alle halbe Stunden verbunden werden mußte. Berge von Charpie sind hierbei verwüstet worden, als deren barmherzige Spenderinnen ich mir hundert holde Jungfrauen vorstellen durfte. Dagegen war die Schnittwunde am hintern Schenkel fest eingeklemmt und so am Eitern verhindert: auch das war sehr beschwerlich.

Kurz, der Gyps behagte mir gar nicht und ich war glücklich, als man mir eine „Bonnet’sche Drahthose“ ankündigte, so benannt nach ihrem französischen Erfinder Bonnet. Man denke sich einen mächtigen Ritterharnisch und subtrahire das Vordertheil, und das Bild des schwerfälligen Panzers ist fertig. Ich lag darin, wie ein Kind in den Windeln, nur daß bei mir jedes Bein für sich lag. Bei dem Einlegen natürlich wieder Dehnung und Schmerz. Eine Annehmlichkeit hatte dieser Verband: durch Flaschenzug konnte ich mich selbst in eine schwebende Lage bringen. Ein junger Arzt, der mich dann und wann besuchte, war ganz entzückt von dem ihm neuen Apparate. „Das ist das einzig Wahre,“ sagte er; ich glaubte es auch, aber wir irrten uns Beide.

Ich lag jetzt fast ganz horizontal. Die Eiterung nahm eher zu als ab; Fleisch und Kräfte schwanden immer mehr, und eines schönen Morgens machte ich die betrübende Bemerkung, daß mein linkes Bein nach langem Stillliegen in der Drahthose auffallende Aehnlichkeit mit einem Schwefelhölzchen hatte. Der Appetit, der sich nun – etwa in der vierten Woche – entfaltete, war ebenso berechtigt als willkommen; ich aß tüchtig Fleisch, genoß dazu ein Glas guten Weins und (Hauptsache!) eine feine Havanna. Meine sentimentale Stimmung schlug allmählich um, ich wurde heiter und fidel, pfiff und sang und freute mich auf meine, wie ich glaubte, nahe bevorstehende Genesung. Auch meine damaligen Aerzte hielten meinen Zustand für vortrefflich; die Schußwunde sah so schön aus, daß man in ärztlichen Kreisen meinen Fall als das Muster einer Oberschenkelbruch-Heilung besprach. Und doch war ich Todescandidat!

In der sechsten Woche nach der Schlacht fand in unserm Krankenstaate ein theilweiser Wechsel des ärztlichen Personals statt. Ich hatte das Glück, fortan von einem der berühmtesten Aerzte Deutschlands behandelt zu werden[WS 1], der seine reichen Erfahrungen als Director der Kliniken an vier Universitäten und als hochgestellter Militärarzt in drei Feldzügen gesammelt hat. Was ich mehr preisen soll, seine hohen ärztlichen Einsichten oder seine Güte und Liebenswürdigkeit, weiß ich nicht. Den ersteren verdanke ich mein Leben, den letzteren eine Reihe der interessantesten und lehrreichsten Unterhaltungen. Die Stunden, in denen der würdige Mann nach segenbringender Arbeit in den Lazarethen an meinem Bette seine Morgencigarre rauchte, werde ich nie vergessen; auch damit hat er viel zu meiner Heilung beigetragen. Allen Aerzten aber wünsche ich die erquickende Milde und Schonung, mit der er seine Patienten behandelt, die bewundernswerthe Geschicklichkeit und Accuratesse, mit der er Verbände anlegt, und vor Allem seinen Grundsatz, daß Schmerzen und Unbehaglichkeiten dem Kranken wenn nur möglich zu ersparen seien.

Bisher hatte mein krankes Bein horizontal gelegen. Die namentlich bei splitterigen Knochenbrüchen so nothwendige beständige Extension (Ausdehnung) war nie, auch mit Gewichten nicht recht, geglückt; die Bruchenden des Knochens waren fortwährend auf einander gestoßen und hatten in der entzündlichen Muskelmasse eine ganz abnorme Eiterung hervorgebracht. Diese war eben um den vierzigsten Tag so stark, daß man nur sanft auf eine beliebige Stelle des Schenkels zu drücken brauchte, um den Eiter einem Börnlein gleich aus der Schußwunde herausfließen zu sehen. Das Nächste, was mein Retter that, war, daß er mich aus der Bonnet’schen Drahthose herausnahm und mein Bein auf einen höchst einfachen und anspruchslosen Apparat legte: eine sogenannte „doppelt geneigte Ebene“ aus zwei gleich langen Bretchen bestehend, die, mit Scharnieren verbunden, nach oben in beliebigen Winkel gebracht werden können. „Ja, sehen Sie, das ist das einzig Wahre!“ So sprach wiederum jener bereits erwähnte junge Arzt zu mir, als er mich in meiner neuen Lage sah. Ich gab ihm das vollständig zu, und diesmal hatten wir Beide Recht.

Die Extension ging jetzt trefflich von statten und die Knochenenden setzten sich gerade aufeinander. Zwischen ihnen aber fühlte man Körperchen, die dem leisesten Drucke mit dem Finger auswichen. „Da sitzt der Uebelthäter,“ sagte mein Arzt, und ich wußte nun, daß da etwas herauszuholen war.

Indessen war mein Zustand sehr bedenklich geworden. Die Eitergeschwulst drohte sich edlen Theilen mitzutheilen; hier lag die Gefahr der Eitervergiftung (Pyämie) vor, die ihre Opfer binnen wenigen Tagen dahinrafft. Dann war meine körperliche Schwäche und Abmagerung so groß, daß jeder operative Eingriff die völlige Auflösung bringen konnte. Erst später habe ich erfahren, daß mein Arzt und seine Assistenten mich damals aufgegeben hatten. „Ihr Pflegling lebt nur noch einige Tage,“ hatte man den Leuten im Hause gesagt, und mein Bruder mußte abreisen, um die Verwandten auf meinen Tod vorzubereiten.

Am zweiundfünfzigsten Tage Morgens trat mein Arzt mit vier Collegen in’s Zimmer; daß der letzte einen großen Kasten mit chirurgischen Instrumenten schnell versteckte, entging mir glücklich. Ich sollte mit List gefangen werden. Die Herren besahen harmlos mein Bein – da drückte mir plötzlich Einer von ihnen, der hinter mir stand, eine Maske auf’s Gesicht, und alsbald dufteten mir die betäubenden Dünste des Chloroforms in die Nase. „Sie chloroformiren mich ja,“ lallte ich und wollte weiter darum bitten, mir das Bein nicht abzuschneiden, als ich ermahnt wurde, den Mund zu schließen und tief durch die Nase zu athmen; ich schwieg und ergab mich, das Beste hoffend.

Es war das zweite Mal, daß ich chloroformirt wurde; früher, am fünfundzwanzigsten Tage, war mir ein Knochensplitter aus dem Schußcanal geholt worden. Das Gefühl, welches ich bei beiden Malen hatte, war, als wenn meine ganze Gedankenwelt in kreisender Bewegung wäre, ähnlich einem Feuerrade; dabei summte mir ein Ton im Kopfe, wie das Singen eines Trinkglases, dessen Rand anhaltend mit einem nassen Finger bestrichen wird; die zuerst an Schnelligkeit zu-, später abnehmenden Pulsschläge schlugen gleichsam den Tact. Je näher ich der völligen Betäubung kam, desto mehr schien sich das ganze Gefühls- und Nervenleben auf den Kopf zu beschränken: ich konnte noch klar denken, war mir aber der unwillkürlichen Bewegungen meiner Arme nicht bewußt; nur die reizbare Gegend um die Wunde schien noch mit dem Gehirn zu correspondiren, wenigstens fühlte ich noch ganz zuletzt, daß etwas darauf gelegt wurde, und zwar, wie ich später erfuhr, meine eigene rechte Hand. Während der [674] Narkose selbst hatte ich weder eine Ahnung von dem, was mit mir vorging, noch irgend welche Träume.

Als ich diesmal erwachte, fühlte ich an der äußeren Seite des Schenkels, in der Gegend der Fractur, einen brennenden Schmerz und überzeugte mich, daß hier eine drei Zoll lange Oeffnung geschnitten war. Mein Arzt hielt mir aber einen Teller mit einem breitgedrückten Stück Blei und zahlreichen Knochensplittern vor, die zum Theil lose in der Wunde gesessen hatten, zum Theil von den spitzen Knochenenden abgekniffen worden waren. Der oder vielmehr die „Uebelthäter“ waren nun allerdings beseitigt. Um die Blutung zu stillen (denn durch den Eingriff mit Fingern, Sonden und Zangen waren viele Gefäße verletzt), mußte sowohl die Schuß- als die neue Schnittwunde vierundzwanzig Stunden lang verstopft bleiben; überstand ich diese Zeit, so war ich gerettet. Nun, meine zähe Natur hat mir geholfen, ich überstand’s. Die mächtigen Eiterhöhlen entleerten sich dann ziemlich rasch; zum Ueberflusse öffnete sich auch noch die erste Schnittwunde vom zweiten Tage wieder, die mittlerweile zugeheilt war, so daß jetzt der Eiter aus drei Oeffnungen Abfluß hatte.

Der herrlichste Appetit von der Welt und Alles, was zu seiner Befriedigung gehört; gute Verdauung, gesunder Schlaf; ein schönes, lustiges Krankenzimmer im Garten; eine in jeder Beziehung treffliche Verpflegung (seit der dritten Woche durch einen wackeren hannoverschen Sanitätssoldaten); der ermuthigende Zuspruch meines Arztes; eine Reihe froher Begebnisse, so namentlich die glückliche Rückkehr meines alten Schulfreundes, in dessen Hause ich lag, aus dem böhmisch-mährischen Feldzuge; Theilnahme von allen Seiten und endlich neue Aussichten für die Zukunft – das Alles beschleunigte meine Genesung. Jetzt, zu Anfang October, liege ich schon seit einer Woche frei im Bette, das Bein nur mit Lederschienen versehen; die Wunden haben sich fast ganz geschlossen, und allmählich soll ich das Bein an Bewegungen gewöhnen. Aber erst in vier Wochen darf ich fest damit auftreten, und dann auch nur mit Hülfe zweier Krücken. So lange muß also noch im Bette ausgehalten werden.

Resumire ich nun, so habe ich, die kommenden vier Wochen mit eingerechnet, vom Tage der Schlacht bis zum ersten Gehversuche einhundert fünfunddreißig Tage oder dreitausend zweihundert vierzig Stunden auf dem Rücken gelegen. Das kranke Bein hat sechs verschiedene Verbandarten erfahren: vier Tage lang einfache Umschläge, drei Tage Blechrinne, dreizehn Tage Gypsverband, zweiundzwanzig Tage Drahthose, fünfundfünfzig Tage doppelt geneigte Ebene, achtunddreißig Tage Lederschienen bei freier Lage. Während der ganzen Zeit haben mich nach- und nebeneinander fünfzehn Aerzte behandelt, darunter vier Civil- und elf Militärärzte, und unter letzteren wiederum ein Preuße, zwei Gothaer und acht Hannoveraner. An Charpie habe ich ungefähr dreißig Pfund verbraucht.

In Anbetracht seiner außergewöhnlichen Schwierigkeit ist mein Fall als ein überaus günstig verlaufener zu bezeichnen. Von einer großen Anzahl meiner hiesigen speciellen Leidensgefährten, d. h. im Oberschenkelknochen Verwundeter, sind mehr als die Hälfte gestorben; alle Anderen sind amputirt, nur fünf sind ganz geheilt, und von diesen fünf bin ich wieder so glücklich daran, mit der geringen Verkürzung von anderthalb Zoll davon gekommen zu sein. – Heftige Schmerzen habe ich eigentlich nur selten gehabt, desto mehr kleine, aber anhaltende Unbehaglichkeiten, die der Arzt häufig nicht beachtet und anerkennt, die aber das Befinden des Patienten wesentlich beeinflussen. Dahin gehört namentlich das sogenannte Aufliegen der hinteren Becken-, der Gesäß- und Rückenknochen; vor förmlichem Wundwerden haben mich indessen ein Luftkissen und ein Rehfell vortrefflich geschützt. Mit solchen Requisiten sollte man in den Lazarethen doch nicht so sparsam umgehen, wie es meist geschieht.

Zum Schluß noch das offene Geständniß, daß ich, nachdem die Gefahr glücklich vorüber, gar nicht so unglücklich über mein Unglück bin. Ich habe doch Vieles erfahren, woran ich früher nicht dachte; die gründliche Einsicht, daß Keiner für sich sagen kann: „Ich bin mir genug, ich brauche keine Hülfe,“ diese Einsicht allein ist gewiß eine treffliche Errungenschaft. Trotzdem möchte ich mich nicht zum zweiten Male in’s Bein schießen lassen; brauch’s auch nicht, denn ich bin invalid geworden. Dem rauhen hannoverschen Kriegsmann aber, der mich nicht einmal auf die geringe Entfernung von dreihundert Schritt in’s Herz treffen konnte, vergebe ich sein brudermörderisches Attentat. Und nun, Ihr Cameraden und Leidensgefährten, bekennt auch Ihr, wie’s Euch ergangen und was Ihr gelitten! Auf eine frohe Zukunft!
G. Hth.



Anmerkungen (Wikisource)