Obermann für Unglückliche geschrieben.[1] Der Held Obermann führt ein Eremitenleben wie Des Esseintes, die Phasen seines Seins sind aber von den Lebenszuständen der Goethe’schen Gestalt gänzlich verschieden. Obermann scheut sich davor, einen festen Wirkungskreis anzunehmen, weil er dadurch seine Freiheit verliert; des Esseintes hat zuviel genossen von den Freuden dieser Welt, als dass für ihn noch etwas anderes bliebe, als die ausgesuchteste Pracht für ihn allein in der Einsamkeit. Die Einsamkeit Obermann’s ist weniger kompliziert als die Des Esseintes’; er schweift hoch in den Spitzen der Alpenriesen herum, dort begegnet ihm kein anderes lebendes Wesen, als der furchtbare Geier der Berge, der mit unheimlichem Schrei in die Tiefe taucht.
Denkt man an die Persönlichkeit beider Schriftsteller, so wird der Unterschied zwischen beiden noch augenfälliger. De Sénancour war aus politischen und persönlichen Gründen — sein Vater hatte ihn in ein Seminar stecken wollen — nach der Schweiz geflüchtet; dort verheiratete sich der gebrechliche Jüngling, verlor aber früh seine Frau. Sein Lebenlang bewahrte er Jean-Jacques Rousseau warme Bewunderung. Er selbst war ein tief melancholisches, unglückliches Wesen. Die romantische Zeit schwärmte für seinen Obermann, dessen feine, psychologische Züge man verstand und würdigte. Bei seinem Erscheinen, 1804, hatte das Buch kein besonderes Aufsehen gemacht, nach 1830 ist es für die ausgewählten Geister der Romantik ein Lieblingsbuch geworden.
Huysmans wird seinen Des Esseintes schwerer verteidigen können, als Sénancour seinen Obermann. Die Misanthropie in A Rebours ist nur durch den tiefen Missmut zu erklären, der, wie in den Werken Baudelaire’s, in einem chronischen Nervenleiden wurzelt.
Kein litterarischer Pessimismus, kein Verlassen seiner Meister Flaubert, de Goncourt, Zola führt ihn zu seiner neuesten Vorliebe für Baudelaire und Edgar Allan Poe. Vielleicht ist es ihm ein Dorn im Auge, dass die jungen Naturalisten nur gar zu schnell mit ihren eigenen Arbeiten zufrieden sind und ihren Vorbildern ohne Selbstprüfung nachfolgen. Da er einen Widerwillen vor allem hat, was nicht sorgfältig und gründlich durchgearbeitet ist; da er zu seiner Entrüstung vielen modernen Schriftstellern ohne Farbe und Charakter eine grosse Popularität zuteil werden sieht, strebt er nach etwas ganz Eigenartig-Besonderem und kommt zur Bewunderung des Fremden, des Ungeheuerlichen, wenn dieses nur von dem allgemein Anerkannten und Gepriesenen abweicht.
In dieser Gemütsstimmung kehrt er sich selbst unbewusst zu der pessimistischen Richtung zurück, und stellt neben Werther, René und Obermann seinen Des Esseintes als nächsten Geistesverwandten. Er teilt mit den beiden krankhaft angelegten Naturen, Gérard de Nerval und Charles Baudelaire, deren Melancholie zuweilen an Wahnsinn grenzt, die Sucht nach dem Ungewöhnlichen, den Hass für das alltägliche. Gérard de Nerval schwärmte für Hoffmann, der, wie schon gesagt, in Frankreich durch Loewe-Veimars’ Übersetzung bekannt geworden war; Charles Baudelaire’s Held war der Amerikaner Edgar Allan Poe, den er selbst ins Französische übersetzte.
Es ist ein tief beklagenswerter Umstand, dass diese vier grossen
- ↑ Man vergleiche Georg Brandes, Die Litteratur des XIX. Jahrhunderts in ihren Hauplströmungen. I. Band, Emigrantenlitteratur, S. 59—75.
diverse: Zeitschrift für französische Sprache und Litteratur. Oppeln und Leipzig: , 1889, Seite 63. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:ZfSL_-_63.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)