Moderne französische Romanschriftsteller - Joris Karl Huysmans
„Je fais ce que je vois, ce que je
vis, ce que je sens, en l'écrivant le
moins mal que je puis. Si c'est là
le naturalisme, tant mieux.“
Die Familie Huysmans stammt aus Holland. Der Vater des Romanschriftstellers J. K. Huysmans, Godfried Huysmans, war Maler und stammte aus Breda. In Paris, wo er Rue Suger 11 wohnte, wurde ihm von seiner Frau, der Tochter eines Ministerialbeamten Gérard, ein Knabe geboren, der die Namen Joris Karl erhielt. Durch Abstammung und Geburtsort ist Huysmans somit ein französischer Niederländer oder ebensogut ein niederländischer Franzose. Beide Nationalitäten spiegeln sich in seinen Kunstprodukten wider, die stets die Neigung verraten, mit Worten zu malen und über Maler zu sprechen. Mehrere seiner Vorfahren waren Maler. Ein Oheim gab Unterricht im Zeichnen und Malen in Breda und Tilburg. Unter seinen Ahnen steht auch Cornelis Huysmans, von dem das Louvre Gemälde aufzuweisen hat.
Huysmans’ Romane und Novellen selbst erzählen uns, welch altmodische klassische Bildung er in seiner Jugend erhalten hat. Er besuchte eine jener Schulen, in denen man jahrelang nichts als Lateinisch lernt, und wo die spes patriae in grosser Anzahl sich zusammenfindet, um sich an den armen pions (den Aufsehern über die Schularbeiten der Knaben) für die Langeweile der endlosen Schulstunden zu rächen. Huysmans, der in jedem seiner Romane, in allen seinen Novellen etwas aus seinem eigenen Leben, aus seinen Träumen und Leiden erzählt, hat uns den Aufenthalt in der Schule in seinem Roman En ménage geschildert.
Sehr anschaulich beschreibt er da, wie er in seinem achten Lebensjahre weinend in die Schule eintritt ; wie ihn seine Eltern Sonntags von dort abholen, während andere, die keine Angehörigen haben, in den einsamen Schullokalen unter Aufsicht des mürrischen pion zurückbleiben, der sie nicht einmal aus dem Zimmer gehen lässt, wenn sie den Finger in die Höhe streckten um zu fragen: „Est-il permis de sortir?“ Er erzählt uns, wie der Gedanke, abends wieder in die Schule zurückkehren zu müssen, ihm stets seinen freien Sonntag verdorben habe. Schon bei Tische sah man nach der Uhr. „Tummle Dich“, sagte die Mutter, „es wird bald Zeit!“ Die Mahlzeit war erst [42] halb zu Ende, da steckte man ihm sein Dessert in die Tasche, – ein eiliger Abschied – dann brachte ihn das Dienstmädchen in die Schule zurück. Wie unangenehm berührten ihn die belebten Strassen. Voll Neid sah er die Kinder der Armen sich frei herumtreiben. Er schielte nach den grossen Anschlagzetteln der Theater, und ärgerte sich, dass er zurück in die Schule musste. Er wäre gern langsam gegangen, aber die Magd trieb zur Eile, sie hatte Ausgangstag.
In der Schulstube war alles dunkel. Man glaubte in einen Keller zu kommen. Als das Dienstmädchen fort ging, wäre er beinahe in Thränen ausgebrochen. Sein Weg ging in den Schlafsaal. Der pion drohte mit Strafe, wenn man beim Treppensteigen zu hart auftrat.
Der Eindruck, den das Schulleben in Huysmans zurückgelassen hat, ist ein bleibender. Es bildet sich geradezu Hass gegen die pions in ihm aus, obgleich er einsieht, dass das Leben dieser Unglücklichen keineswegs beneidenswert sei. Dann beklagt er sich über die schlechte Kost, die in steter Regelmässigkeit abwechselnd, immer dieselbe bleibt: fettes Hammelfleisch und Möhren mit warmem Wasser Montags; Kalbfleisch und schlechter Käse Dienstags; Rüben mit brauner Sauce und Sauerampfer Donnerstags, lauter Speisen, die ihn krank machten; Makkaroni ohne Käse, ungeniessbare Erbsensuppe und in verbranntem Fett gebackene Kartoffeln.
Er äussert sich sehr bitter über die kalten Schlafzimmer, deren Fenster par raison d’hygiène beständig offen blieben; dessenungeachtet herrschte im Sommer eine dumpfe ekelerregende Atmosphäre. Früh um sechs rief der Stiefelputzer die armen Jungen wach. Freilich klagt er auch in echter Knabenungerechtigkeit, wie er sich Jahr aus, Jahr ein an den „plumpen Witzen des Horaz und den dummen Aufschneidereien des Homer“ hätte erlustigen müssen. Diese Worte zeigen, dass Huysmans schon als Knabe die krankhaft unzufriedene Stimmung kannte, die im Anfang des 19. Jahrhunderts die Welt beherrschte, und die man in Deutschland „Weltschmerz“, in England „Spleen“ zu nennen pflegt, eine Stimmung, die den späteren Philosophen höchst wichtige Bausteine für ihre Theorien über den Pessimismus geliefert hat; ein Zug der Zeit, der sich unter dem einförmigen russischen Himmel und unter dem Zusammenwirken von traurigen, historischen Ereignissen zu dem trostlosen Prinzip des Nihilismus entwickelt hat.
Der arme Junge klagt ferner, dass er Racine und Virgil, Cicero und Boileau auswendig lernen muss, dass er dagegen nichts Nützliches lernt; dass er Montags voll Verzweiflung die lange Woche begann, dass erst Donnerstag ein Hoffnungsschimmer in ihm erwachte, endlich werde doch wieder Sonntag kommen. Seine einzige Freude war die grosse Ferienzeit im Juli, und die Vorfreude darauf, wenn die Jungen mit ganz ausserordentlicher Ungeduld sich anstrengten, wie sie über die unglückseligen pions ein Strafgericht ergehen lassen konnten.
Was auch in diesen Klagen übertriebenes sein möge, sicher ist es doch, dass Huysmans keine glückliche Jugend hatte. Er erfuhr nur allzufrüh, dass die Leiden der Armut die Kinder unbemittelter Eltern schwer niederdrücken. Seinen Vater scheint er früh verloren zu haben. Nachdem er die vorgeschriebenen Examen abgelegt hatte, gab er Unterricht an Kinder begüterter Familien. Eine Erbschaft, die ihm ein Bruder seiner Mutter hinterliess, rettete ihn aus der tiefsten Bedrängnis.[1]
[43] Der junge Huysmans war beim Beginn des deutsch-französischen Krieges zweiundzwanzig Jahre alt. Er trat als Freiwilliger in die französische Armee ein, wie er dies uns selbst in der Novellensammlung Les Soirées de Médan in der Erzählung Sac au dos schildert.
Sie fangt so an: „Als ich meine Schulzeit absolviert hatte, suchte ich auf den Wunsch meiner Familie den gefürchteten grünen Tisch auf, um den mehrere alte Herren sassen, die voll Eifer untersuchten, ob ich genug von den toten Sprachen wisse, um zu dem Rang eines bachelier zugelassen zu werden.
Ich legte ein gutes Examen ab. Ein gemeinschaftliches Mahl versammelte die ganze Familie um mich her; man sprach über meine Zukunft, und entschied sich dahin, dass ich Jurisprudenz studieren sollte.
Bald stand ich vor meinem ersten akademischen Examen. Ich verkehrte viel im Quartier latin, woselbst ich die Bekanntschaft von Studenten machte, die alle Abende bei einem Glas Bier ihre politischen Meinungen austauschten. In dieser Zeit las ich die Werke von Georges Sand und Heine, von Edgar Quinet und Henri Murger.
So verlief ein Jahr. Die allgemeinen Wahlen vor dem Zusammenbruch des zweiten Kaiserreichs (Mai 1869) liessen mich kalt. Da ich weder einen Senator, noch einen Ausgewiesenen Vater nannte, musste ich mich ja unter jeder Regierung dem Zustande von Dürftigkeit und Entbehrung, in dem meine Familie schon lange lebte, unterwerfen.
Meine juristischen Studien machten mir wenig Freude. Mir war, als hätte man die Gesetzentwürfe absichtlich so schlecht geschrieben, um gewissen Leuten genügende Gelegenheit zu kleinlichem Streite über dies oder jenes Wort zu geben. Und noch heute steht es bei mir fest, dass ein deutlich formulierter Satz niemals Gelegenheit zu vielerlei Deutungen geben kann.
Ich dachte über diesen oder jenen Beruf nach, den ich ohne inneren Widerstreit hätte ausüben können, als mir plötzlich der Kaiser selbst einen verschaffte: die Ungeschicklichkeit seiner Politik machte mich zum Soldaten.“
Der Exkaiser Napoleon III. starb am 9. Januar 1873 zu Chislehurst. Huysmans’ Novelle, oder besser gesagt, Lebensgeschichte aus den Jahren 1870 und 1871 erschien gegen 1880. Die düstere, niedergeschlagene Stimmung – aus der Armut und Entbehrung seiner Knaben- und Jünglingsjahre erzeugt – spricht deutlich aus dem Anfang des Sac au dos.
Huysmans wurde Soldat, obgleich er sich für den Krieg durchaus nicht begeistern konnte. Er wurde der garde mobile de la Seine zugeteilt, ging fortan in dunkelblauer Jacke und hellblauer Hose mit breitem, roten Streifen, und zog an einem gewitterschwülen Juliabend mit einem schweren Ranzen auf der Schulter an die bedrohten Grenzen. Vorläufig musste er in Châlons bleiben , woselbst die jungen Soldaten an allem Mangel litten, wo nichts geordnet war; keine Kantine, kein Stroh, keine Mäntel, keine Waffen; nichts war da.
Schon nach Verlauf einiger Tage machte ihn die Feuchtigkeit seines Zeltes krank. Man bringt ihn in eine überfüllte Ambulance, gibt ihm einen grauen Mantel mit Kapuze, eine rote Hose und eine weisse Schlafmütze. Der Lazarettarzt zeigt sich gegen seine Patienten als unerträglichen Tyrannen. Noch nicht vollständig wieder hergestellt, muss Huysmaus die Uniform wieder anziehen: die Preussen nähern sich Châlons. Noch sehr schwach, litt er ganz ausserordentlich bei der Eisenbahnfahrt. Wenn er es nicht selbst erzählte, würde man [44] kaum glauben, dass französische Soldaten unterwegs die Buffets französischer Bahnhöfe plünderten. Immer noch leidend kam er, ohne sich daselbst aufhalten zu können, in Paris an; weiter ging es nach Arras, wo er Aufnahme im städtischen Hospital fand, nicht im Hôtel des Erzbischofs , der seine Gastlichkeit nur Verwundeten, nicht aber Kranken angedeihen liess.
Die ganze Kriegszeit hat Huysmans in Hospitälern und Ambulancen zugebracht; am längsten war er in Evreux. Nachdem der Krieg und das Leid der Kommune vorüber waren, widmete er sich endlich der litterarischen Thätigkeit.
Von seinem weiteren Leben bleibt nur wenig zu berichten. Huysmans verstand die Kunst nicht, Kapital aus seinen Arbeiten zu schlagen, arbeitete auch mit wenig Leichtigkeit; so stellte es sich bald heraus, dass er von seiner Feder nicht leben konnte. Glücklicherweise fand er eine Stellung im Ministerium des Innern; heute hat er es bis zum sous-chef-de bureau gebracht.
Von 1874-1887 veröffentlichte er:
1874. Le Drageoir aux épices. Paris. Dentu. (Erste Auflage vergriffen, zweite Auflage, Paris, Maulet, 1875, ebenfalls.)
1876. Marthe. Brüssel. Jean Gay. (Vergriffen.) Zweite Auflage unter dem Titel: Marthe, histoire d’une fille. Avec une eau-forte impressioniste de J.-L. Forain. Paris. Derveaux. 1879.
1879. Les sœurs Vatard. Paris. G. Charpentier. (Fünf Auflagen.)
1880. Croquis Parisiens. (Eaux-fortes de Forain et Rafaëlli.) Paris. Henri Vaton. (Prachtausgabe auf Büttenpapier mit roten Anfangs- und Schlussvignetten, sowie Initialen.) Vergriffen. Zweite Auflage: Imprimé dans le format presque perdu de quelques eucologes. Nouvelle édition, augmentée d’un certain nombre de pièces et d’un portrait. Paris. Léon Vanier, Editeur des Modernes, 1886.
1881. En Ménage. Paris. G. Charpentier. (Vier Auflagen.)
1882. A veau l’eau. Brüssel. Kistemaeckers. Vergriffen.
1883. L’Art moderne. Paris. G. Charpentier.
1884. A Rebours. Paris. G. Charpentier & Cie.
1886. En Rade. Roman, erschienen in der Revue independante 1886-1887.
Ferner schrieb Huysmans:
1880. Sac au dos, in Les soirées de Médan. Paris, Charpentier, 1880. Zehn Auflagen.
1881. Pierrot sceptique, avec dessins en couleur de Chéret. Mit Léon Hennique. Paris. Rouveyre. (Vergriffen.)
1887. Un dilemme. Paris, Tresse & Stock.
Alle Werke Joris Karl Huysmans’ einer sorgfältigen Analyse und gründlichen Kritik zu unterwerfen, liegt nicht im Rahmen der Zeitschrift.
Die seine Eigenart am meisten charakterisierenden sind Marthe, die Croquis Parisiens, En Ménage und zumal A Rebours.
Als Huysmans 1874 das Gebiet der Litteratur betrat, hatte eben Émile Zola durch seine fünf ersten Romane aus dem Zyklus der Rougon-Macquart die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Im [45] Jahre 1874 war gerade einer seiner besten Romane: La Faute de l'abbé Mouret erschienen. Zola hatte seiner Kunstrichtung den Namen Naturalismus gegeben; es war dieselbe Richtung, die bereits Henri Beyle, Honoré de Balzac, Gustave Flaubert eingeschlagen und zur Anerkennung gebracht hatten.
Huysmans hat den Kampf zwischen den als Naturalisten neuerstandenen Realisten und der alten Garde der Romantik, welch letztere oft durch die Sauvegarde des Klassizismus verstärkt wurde, redlich mitgekämpft. Die Wechselfälle des Pariser Lebens brachten ihn in Zola’s Kreis und in Verbindung mit dem Pariser Verleger George Charpentier. Das ist der Grund, warum man ihn, was er auch geschrieben hat, als Naturalisten beurteilt. Das wäre noch kein Anlass, ihm voll Antipathie entgegenzutreten; im Gegenteil, Huysmans hat das Recht zu verlangen, dass man ihm ausserhalb des Zola’schen Kreises und der Neunaturalisten als ursprünglichen Künstler betrachte.
Die Dichtung ist eine göttliche Kunst, deren Aufgabe es ist, das Leben der Menschen zu adeln und sie im täglichen Daseinskampfe zu stützen. Mögen andere Musen und deren Priester und Priesterinnen ebenfalls Schönes schaffen, man wird es gern anerkennen; aber begeistert sollte man immer hinzufügen, dass trotz des immer mehr zunehmenden Niederganges unter Schriftstellern, Dichtern und Kritikern, die Dichtung doch immer und vorzugsweise ein Herzenstrost ist.
Als man Huysmans einst fragte, ob er zu Zola’s Schule und zu den Bekennern der naturalistischen Lehre gehöre, antwortete er:
„Je vous réponds tout simplement que je fais ce que je vois, ce que je vis, ce que je sens, en l’écrivant le moins mal que je puis. Si c’est là le naturalisme, tant mieux. Au fond, il y a des écrivains, qui ont du talent et d’autres qui n’en out pas, qu’ils soient naturalistes, romantiques, décadents, tout ce que vous voudrez, ça m’est égal! Il s’agit pour moi d’avoir du talent, et voilà tout.“[2]
Man glaube durchaus nicht, dass dieses Wort so einfach sei, wie der praktische Beweis des Columbus, dass ein Ei auf der Spitze stehen könne. Talent zu haben ist ja das Alpha und Omega der litterarischen Kunst. Manche glauben zwar, dass kein Schriftsteller Ruhm erwerben könne, wenn er nicht eine bestimmte philosophisch-ästhetische Richtung vertrete; dass man von einem Romanschriftsteller absolut sagen müsse, ob er eine klassische, romantische, realistische, naturalistische, mystische, impressionistische oder nihilistische Überzeugung habe. Besser als all dies ist sicher die Göttergabe des Talentes, die Fähigkeit, es zu zeigen. Es gibt Leute, die von dem sehr gefährlichen Grundsatz ausgehen, dass Schriftsteller reiferen Alters stets von jüngeren übertroffen werden müssten, dass die jüngeren gewöhnlich die neuen Zukunftsbahnen frei fegen. Besser als jung sein, und solchen Hirngespinnsten nachzuhängen ist die Göttergabe des Talentes, die Fähigkeit, es zu zeigen.
Huysmans, der Mann mit grossem Talente, beweist dies durch sein Beispiel.
Wir übergehen seine ersten kurzen Skizzen, wie zum Beispiel Le Drageoir aux épices, und erwähnen sein merkwürdiges Buch: Marthe, histoire d’une fille, mit dem er darthat, dass er einst ein bedeutender Schriftsteller sein würde. Über den Inhalt des Buches haben wohl manche [46] den Kopf geschüttelt. Huysmans war jedoch durchaus nicht der erste, der ihn in die französische Litteratur einführte. Schon im Jahre 1622 hat Charles Sorel mit seiner Histoire comique de Francion nach dem Vorbild eines Aleman und Quevedo eine Art Schelmenroman geschrieben, worin Gaudiebe und abenteuerliche Frauen vorkommen, die ihre Zuchtlosigkeiten mit beispielloser Unverschämtheit verkündigen. Scarron schlug 1650 in seinem Roman Comique keinen anderen Ton an; seine herumziehenden Komödianten sprechen und bewegen sich ganz im Geist der spanischen Picaros. Dasselbe gilt von zahlreichen untergeordneten Schriftstellern, wie du Lannel (Roman Satyrique, 1624), Mareschal (Chrysolite, 1627), François Tristan l’Hermite (Le page disgracié, 1643) und Antoine Furetière (Le Roman bourgeois, 1666).[3]
Im achtzehnten Jahrhundert ist Le Sage zu nennen, und es gab der Abbé Prévost eine histoire de fille, als er 1732 die Histoire de Manon Lescaut et du Chevalier des Grieux vollendete.
Mit diesem Buche fängt der psychologisch-erotische Roman an, den Restif de la Bretonne weiter pflegt in Le pied de Fanchette ou l’orfeline française, histoire intéressante et morale, 1769, und ihn auf Henri Beyle (Le Rouge et le Noir, 1831) verpflanzt; der in unseren Tagen vom jüngeren Dumas (La Dame aux camélias), von Georges Sand, von Flaubert (Éducation sentimentale), von den Gebrüdern de Goncourt und einem ganzen Heer mittelmässiger Nachfolger weiter bebaut wird.
Marthe von Huysmans hat am meisten Verwandtschaft mit Edmund de Goncourt’s La fille Élisa. L'histoire d'une fille erschien am 12. September 1876, La fille Élisa am 20. März 1877. Das geistige Band, das Huysmans und de Goncourt verknüpft, ist leicht nachzuweisen. Beide sind durch und durch Künstler, beide sind begeistert von Malerei, Bildhauerkunst, Kupferstechkunst.
Huysmans vergleicht Marthe mit Saskia, Rembrandt’s erster Frau; er lässt seine Marthe eine Kopie von Jordaens Dreikönigsfest bewundern, und sie gedankenvoll vor einem Stich nach Hogarth (das dritte Blatt von The Rakes Progress[4]) still stehen. Marthe, die Tochter aus der unglücklichen Ehe zweier elender Abenteurer, zeigt dabei so viel Geschmack, dass sie ihn nicht von ihren Eltern geerbt haben kann. Ähnliches kommt bei fast allen Personen des Buches vor.
Weder Marthe, noch Elisa, noch Nana sind die ersten unter den weissen Sklavinnen, die einem Romanschreiber zum Modell gedient haben.[5] Der jüngere Dumas hat seiner Marguerite Gauthier eine gewisse Berühmtheit zu verschaffen gewusst, die nach Verdi’s Traviata noch zunahm. Schon Manon Lescaut gehört der Kaste an, die der Niederländer Bredero „die grosse Gilde“ nannte.
Man darf Huysmans nicht wegen seines Stoffes über die Achseln ansehen. Ein spanischer Dominikanermönch, Andreas Perez, genannt Ubeda, schrieb 1605 einen Roman: La Picara Justina, der, wie La Tia fingada von Cervantes, die spanischen weissen Sklavinnen mit viel [47] weniger Vorsicht und Decenz vorführt, als der Abbé Prévost, Dumas, Huysmans, de Goncourt oder Zola es thun.
Von mehr Gewicht ist der Vorwurf, dass Huysmans seinen Gegenstand in einer gewählten, künstlerischen Sprache behandelt, von der die Wirklichkeit, das schmutziggraue Kolorit seines Stoffes, sehr auffällig absticht. Warum er in schillernder Künstlerlaune das gefährliche Wagstück unternahm, beschreibt er selbst, wenn er die Grübeleien Leo’s schildert, des Schreibers bei einem Journalisten, der Marthe im Théâtre de Воbino hat singen hören, und ihr nun mit gutgemeinten, schlechten Sonetten huldigt.
Da Huysmans jedem seiner jungen Helden einen Teil seiner eigenen Individualität verleiht, findet man ihn auch an Leo (in Marthe) teilweise wieder. Leo ist sehr früh selbständig geworden, hat seine Freiheit missbraucht und ist das Opfer seiner Leidenschaften geworden. Sein schriftstellerisches Talent, das die Künstler zwar sehr hoch stellen, das aber alle ehrbaren Philister mit Entsetzen erfüllt, hatte ihn verleitet, von seiner Feder, d. h. in Hunger und Entbehrung zu leben. Es gab Augenblicke, in denen er seine Künstlerträume in geniale Prosa zu kleiden verstand, in eine Form verwandt mit den fremdartigen Schemen, die das wilde Talent Goya’s ins Leben gerufen hatte. Auf die Tage des Schaffens folgten dann Tage tiefster Niedergeschlagenheit, in denen er keine vier Zeilen schreiben konnte.
Seit einem halben Jahrhundert beherrscht die französischen Kunstkreise eine ganz wunderbar erscheinende Verehrung für den Spanier Goya. Wie der Maler Goya, wie der Romanschreiber Hoffmann, so hiess es schon zu Zeiten Théophile Gautier’s und Gérard de Nerval’s. Und einmal in die Mode gekommen, verschwanden beide Ausländer nicht wieder von der litterarischen Bühne. Später kommen noch Shelley, Edgar Allan Poe und de Sénancourt dazu, und was die allgemeine Meinung einmal als genial gestempelt hatte, das blieb lange, ja bis zum heutigen Tage ein Gegenstand tiefster Verehrung.
Wir kehren zu Huysmans’ Helden Leo zurück. Um den Gemütszustand des Verfassers noch deutlicher hervortreten zu lassen, berichten wir noch, dass dieser in seinen Träumereien, die aus einer zu starken Überreizung seiner Nerven geboren sind, beständig das Bild einer idealen Geliebten vor sich schweben sieht, einer von Rembrandt gemalten Frau, einer Frau von wunderbarer Pracht der Schönheit, deren Augen in der unbeschreiblichen Glut, in der melancholischen Lebenslust du chef-d’œuvre du Van Rhin, la femme du salon carré au Louvre leuchten.
Die letzten Worte, die wir hier unübersetzt wiedergeben, zeigen mit ihrem dreimaligen du, mit dem wunderlichen Namen Van Rhin allein schon das Unfertige, Unreife in diesem ersten Buch, und der Verfasser war selbst der erste, der die Mängel seiner Arbeit einsah. Marthe erschien 1876 in Brüssel und wurde von der französischen Regierung in den Index aufgenommen. Es ging damit, wie mit dem Prozess über Flaubert’s Madame Bovary, es ist die alte Geschichte vom Splitter und Balken. Das Verbot stellte sich übrigens als ganz überflüssig heraus. Erst im Jahre 1879 erschien eine zweite Auflage der Marthe in Paris bei Derveaux mit einer impressionistischen Radirung von Forain, die ich, mit Erlaubnis gesagt, abscheulich finde.
Huysmans gesteht es in einem Avant-propos zur zweiten Auflage selbst ein, dass seine Marthe ein roman naturaliste und sein Stil tourmenté ist. Er gibt das Buch jedoch auch zum zweiten Male, wie es eben ist, avec ses défauts et ses audaces de jeunesse.
[48] Wir bleiben nicht länger bei diesem Erstling seiner Muse stehen. Huysmans hat uns noch andere Proben seines Talentes gegeben. Das zeigt schon sein zweites Buch Les sœurs Vatard.
Ein kurzes Wort über den Inhalt vorweg. Huysmans erzählt die Geschichte der Schwestern Vatard, die in einer Pariser Fabrik, in den ateliers de satinage et de brochure de la maison Débonnaire & Сie beschäftigt sind. Céline und Désirée sind die Töchter eines Arbeiters, der in seinen alten Tagen von einem sehr ärmlichen Jahrgehalt lebt. Die älteste ist ein verlorenes Geschöpf, die jüngste führt sich tadellos auf. Ein junger ouvrier macht ihr den Hof, aber der alte Vatard will seine Tochter nicht hergeben, er hat sie im Haushalt nötig. Sie spart ihm die Kosten einer Putzfrau. Désirée kann ihren Geliebten nur sehr selten sprechen. Die Liebe wird schwächer und schwächer. Désirée wird krank. Schliesslich heiratet sie einen braven Arbeiter, der zu seinem Schwiegervater ins Haus zieht. Der Hauptschauplatz der Erzählung ist die Fabrik von Débonnaire & Cie. Ein wüstes Durcheinander von hässlichen Menschen und hässlichen Dingen ist da zusammengebracht. Die ouvrières, arme Frauen in schmutzigen Lumpen, leben in einer ungesunden Atmosphäre, die der Geruch von nassem Papier, Stärke und wer weiss was noch verdirbt.
Die meisten Pariser Blätter fielen den Roman mit grosser Erbitterung an. Nur zuweilen sprach ein Freund oder Geistesverwandter zu seinen Gunsten. Huysmans’ Meister, Zola, beurteilte die Dichtung im Voltaire sehr günstig. Er preist die Wahrheit in der Zeichnung der armseligen Arbeitsleute und deren dürftigen Wohnungen im fünften oder sechsten Stock. Dass der Roman keine Verwicklung hat, nicht einmal fesselnd erzählt ist, wird charakteristisch genannt. Tout l’art moderne est là.[6] Die gewissenhaft gezeichnete alte Vatard und seine beiden Töchter gereichen dem Verfasser zur Ehre. Schlechte und brave Arbeiterkinder wie Céline und Désirée kommen im Pariser Leben täglich vor. Die lang genährte und endlich getäuschte Hoffnung Désirée’s, ihre melancholischen Spaziergänge und Unterhaltungen mit dem braven Arbeitsmann, verdienen unbedingt das Zola’sche Lob. Eine solche Liebe auf der Strasse rührt um so mehr, je mehr sie mit der Wirklichkeit übereinstimmt, je öfter sie auf dem Boulevard oder Faubourg beobachtet werden kann.
Huysmans konnte sich kein liebenswürdigeres Urteil wünschen als das Zola’s. Ich selbst stelle mich auf einen vollständig neutralen Standpunkt, ohne jedes Für noch Wider inbezug auf den ästhetischen Grundsatz der beiden Schriftsteller; mein Urteil über Les sœurs Vatard lautet abweichend von dem Zola’s. Als Studie, als Beitrag zur Kenntnis der Arbeiterfamilien ist das Buch vortrefflich. Das von Zola selbst in seinem L’Assommoir gegebene Beispiel hat den jungen Romanschriftsteller begeistert. Aber er hat übersehen, dass ein Sujet, wie das im Assommoir gewählte, einen erschütternden Eindruck machen muss, und dadurch manchen Einwand entkräftet. Trunksucht, die Totsünde des armen Arbeiters — auch anderer Menschen — zum Thema für einen Roman aus dem Volksleben gewählt, das ist ein Gegenstand, der Tausende von Lesern, litterarisch gebildete und unlitterarische fesselt. Dazu kam noch, dass Zola mit einer aussergewöhnlichen plastischen Kraft jede einzelne Gestalt seines Buches sich vor der Phantasie seiner Leser [49] handelnd bewegen liess. Dieses plastische Talent ist einem Romanschriftsteller, der den Beifall eines grossen Leserkreises erringen will, unumgänglich notwendig. Huysmans aber ist kein Plastiker; er ist nur Maler, vielleicht sogar weniger als das. Er skizziert mit Kohle, und übertrifft in zierlichen Kunsteffekten manchmal selbst Zola, aber seine Gestalten überwinden niemals das Skizzenhafte und Unbestimmte von Kohlenzeichnungen.
Von diesen Holzkohle -Skizzen kenne ich keine vollendeteren als die Croquis Parisiens, kurze Gedichte in Prosa, zweimal aufgelegt, mit Einschaltung einiger Skizzen aus der ersten Sammlung Drageoir aux Épices. Dies Buch zeigt deutlicher als irgend ein anderes, dass Huysmaus durch und durch ein Künstler ist. Diese kleinen Gedichte sind voll überraschender Züge, und schon die Titel der Skizzen sprechen es aus, dass Huysmans Gedichte in Prosa schreibt, wie weiland Aloysius Bertrand und der nun wieder hochgepriesene Charles Baudelaire, der Verfasser der Petits poèmes en prose. Huysmans überschreibt nämlich eine seiner bizarrsten Skizzen Ballade en prose de la chandelle des six; eine andere: Le poème en prose des viandes cuites au four. Das Gedicht von den „Kerzen, sechs aufs Pfund“, umfasst sechs Strophen, die alle auf denselben Refrain enden:
- O chandelle des six, grésillante chandelle.
Die hübscheste Strophe dieses Prosagedichts ist die vorletzte, sie lautet:
„Wenn du, vom Petroleum und anderem Kunstlichte vertrieben, nicht einmal mehr von den Armen gebraucht wirst, so bist du doch gefeiert, mehr als eine Königin je gefeiert worden ist, du qualmende Kerze! Rembrandt, Gerard Dou, Schalken haben dich in unsterblichen Werken gefeiert; sie haben dich den rosigen Schnee der Wangen und Busen verklären lassen und die flatternden Locken der schönen vlämischen Frau, die mit der Hand deine Flamme vor dem Luftzug schützt, ô chandelle des six, grésillante chandelle.“
Ich lasse ein anderes folgen, das der Dichter Ritournelle nennt:
„Ihr verstorbener Mann, der Vater ihrer drei Kinder, schlug sie, so lange er lebte, und starb elend, an übermässigem Absinthgenusse.“
„Seitdem watet sie durch den Schlamm der Strassen ihrem Handwagen nach und kreischt mit gellender Stimme: Schöne Waare! Kauft!“
„Sie ist unbeschreiblich hässlich. Sie ist ein Scheusal, mit einem feuerroten Kopf auf dem Halse eines Athleten; ihre Augen sind blutunterlaufen, ihre mit Schnupftabak gefüllte Nase ist eine wahre Habichtsnase.“
„Ihre drei Kinder hungern; für sie durchwatet sie den Schlamm der Strassen, für sie schiebt sie den schweren Handkarren und schreit: Schöne Waare! Kauft!“
„Ihre Nachbarin ist gestorben.“
„Der verstorbene Mann der letzteren, der Vater ihrer drei Kinder, schlug sie, so lange er lebte und starb elend, an übermässigem Absinthgenusse.“
[50] „Das hässliche Scheusal hat die drei verwaisten Kinder zu sich genommen!“
„Die sechs Kinder hungern! Sie muss doppelt so viel arbeiten! Ohne Rast und Ruhe durchwatet sie den Schlamm der Strassen, schiebt ihren Handkarren und kreischt mit gellender Stimme: Schöne Waare! Kauft!“
Der Vorzug dieser Prosaidyllen ist, dass Huysmans hier häufig feiner und akkurater zeichnet, dass er die Holzkohle auf die Seite legt und zur Radiernadel greift.
Die zwei grössten Stücke aus Croquis Parisiens sind in der That wie mit dem Grabstichel entworfen; es sind Les Folies-Bergère und Le Bal de la Brasserie européenne. Man erinnere sich der sorgfältig ausgeführten Aquarellen in Zola’s Une Page d’amour. Еs sind Ansichten von Paris; Paris im wechselnden Tageslicht, bei Sonnenschein, bei Sturm und Regen. Huysmans malt in gleicher Weise das Innere der Häuser. Er radiert den früher allgemein besuchten Vergnügungsort Les Folies-Bergère, und als Seitenstück dazu einen Soldatenball in Grenelle, einem der abgelegensten Viertel von Paris.
Die Seiltänzerkünste zweier Akrobaten, eines Engländers mit seiner Frau, die an Trapezen hängen und sich hoch an der Decke des Darstellungsraumes hin und her schwingen, während das opalfarbige elektrische Licht sie mit einem silbernen Nimbus umgibt, diese Künstler, von denen einer am Schluss unter plötzlichem Verstummen der Musik, nach einem heftigen Knall das Trapez loslässt, um von dem anderen aufgefangen zu werden und in ein grosses Netz zu fallen, — diese in unserem Jahrhundert so hoch bewunderte Muskelvirtuosität, diesen kindischen Genuss eines Haufens von Müssiggängern und Tagedieben beschreibt Huysmans meisterhaft in dem glänzendsten Französisch, das man sich nur denken kann. Der Jubel des Publikums, wenn das halsbrecherische Stück gelungen ist, das Erscheinen der Luftspringer nach dem Hervorruf, die Verbeugungen des Mannes, die Kusshände der Frau, und der kurze, kindische Trab, in dem sie die Bühne verlassen, — nichts ist vergessen.
Noch ausführlicher und nicht weniger genial ist der Soldatenball in der Brasserie européenne geschildert. Huysmans sitzt unweit zweier Bürgerfrauen, Madame Haumont und Madame Tampois. Man tanzt auf Asphalt unter einem Glasdach, das eiserne Pfeiler stützen. Unteroffiziere und Soldaten aller Waffengattungen treten auf dem Tanzplatz auf. Die Tänzerinnen sind zum grösstenteil sehr ruhig. Sie sind meistens in Gesellschaft von Verwandten, die eben so ruhig auf rings an der Wand hinlaufenden Bänken sitzen und dem Ball bewundernd zusehen.
Zahlreiche Personen in strenggezeichneten Typen, zwei oder drei freche Tänzerinnen, lärmende Schlächter aus dem Abattoir von Grenelle, Kürassiere und Artilleristen, wogen durcheinander. Dichte Staubwolken steigen vom Boden auf; das schmetternde Dröhnen der Musik übertönt jeden anderen Laut. Eine stickende Atmosphäre erfüllt den Saal, gar mancher möchte dem Gedränge entrinnen. Unter dem Tanzsaal ist eine Kaffeeschänke, die überfüllt ist von Soldaten. An den Wänden hängen allerlei Waffen und neben Helmen mit schwarzen oder roten Pferdeschweifen Schakos und rote Käppis. Der Lärm vermehrt sich. Es wird tapfer getrunken, es wird sehr reichlich soupe à l’oignon bestellt. Schon wirft man drohende Blicke um sich her. Bald beginnen Schlägereien.
[51] „Ça devient ignoble, allons!“ sagt Mme Lampois, und verlässt den Bal de la Brasserie européenne; ein gleiches thut der Künstler selbst.
Die Frage nach der Wichtigkeit einer so geschilderten Szene gehört nicht hierher. Die litterarische Arbeit Huysmans’ kann neben die Arbeit jedes genialen Radirers gelegt werden. Wir haben die getreue Zeichnung eines ganz speziellen Ortes und eines ganz speziellen Publikums vor uns. Es kommt hier nur auf die Zeichnung, nicht auf das Modell an. Das kann man jedoch nicht von allen anderen Skizzen sagen. Huysmans’ Types de Paris, sein Conducteur d’omnibus, sein Marchand de marrons, sein Coiffeur, sind mittelmässige Stücke ohne höheren Kunstwert. Hier und da ist ihm eine Landschaft aus der Umgebung von Paris besser geglückt; unter seinen Fantaisies et petits coins sind jedoch einzelne, die beim Lesen mehr Verwunderung als Bewunderung erwecken. So verraten seine Studien über Le gousset und L’étiage entschieden Mangel an gutem Geschmack. Was hat eine Beschreibung von des odeurs suspectes, (que) certains quartiers de Paris laborieux dégagent, lorsqu’on s’approche, l’été, d’un groupe, mit der Litteratur zu schaffen? Und welcher sonderbare Einfall brachte Huysmans zur Vergleichung der bustes de femme sans têtes et sans jambes, wie sie in manchen Läden zum Ausstellen von Kleidungsstücken gebraucht werden, mit Göttinnenbildern des Altertums? Der Vorteil dieser bustes ist, dass sie ce charme subsidiaire de la femme, la gorge, besser zur Anschauung bringen, als Marmorbilder. Der Verfasser scheint an einer augenblicklichen Umdüsterung der Sinne zu leiden, wenn er ausruft: Combien supérieurs aux mornes statues des Vénus, ces mannequins si vivants des couturiers!
Der 1881 erschienene Roman En Ménage bietet ein talentvoll zusammengesetztes Ensemble. Wir brauchen nicht zu wiederholen, dass die grossen Romanschreiber früherer Perioden — zumal Georges Sand — zu wiederholten Malen den Versuch gewagt haben, den Ehebruch zu idealisieren. Französische kirchliche und gesellschaftliche Zustände, einige romantische Kühnheiten, ein gewandtes Propagandamachen für die Wiedereinführung der Ehescheidung, das alles erklärte ehemals, obgleich es auch damals keine Entschuldigung dafür gab, diese fortwährenden Schläge auf ein und denselben Ambos, — den Ehebruch.
Huysmans betritt den entgegengesetzten Weg. Er materialisiert den Ehebruch und lässt den betrogenen Ehemann mit bewundernswerter Ruhe in einer Szene auftreten, die trotz des Scheines vollkommener Richtigkeit, doch die Unwahrscheinlichkeit selbst ist. Der Held des Romans, André Jayant, Litterat und Künstler, ein Mann mit sehr reizbaren Nerven, ist so höflich, den Dieb seines Eheglücks sehr ruhig zur Thüre hinaus zu führen, und ihm die Treppe hinunter zu leuchten. Darauf verlässt der Betrogene ebenfalls seine Wohnung und lebt nun wieder als Junggesell.
Dass eine solche Handlungsweise ebenso cynisch ist, wie der Ehebruch selbst, hat noch kein französischer Kritiker zu sagen gewagt. Eine solche philosophische Ruhe beweist eine unsittliche Gleichgiltigkeit, die niemand zur Ehre gereicht. Das in der französischen Nation so äusserst fein entwickelte Gefühl persönlicher Würde und persönlicher Ehre kann eine solche Darstellung nicht billigen.
Dass sich der Held nach der Trennung einsam fühlt, vergebens anderswo Trost sucht, und sich schliesslich mit seiner Frau wieder versöhnt, war nach einem solchen Anfang nicht anders zu erwarten. Und doch wäre es unbillig, nicht einzugestehen, dass Huysmans gerade [52] in der feinen Analyse kleiner Leiden, kleiner Schmerzen, kleiner Qualen Vorzügliches leistet. Das Leben des betrogenen Gatten, — eine Kette unbedeutender Leiden und erschlaffender Täuschungen — ist der Hauptinhalt des Buches; diesem alle Kräfte seines Geistes zu opfern, Zug für Zug mit peinlicher Sorgfalt und ganz ungewöhnlicher Aufmerksamkeit auf Stil und Schreibweise zu behandeln, das ist der Triumph des Verfassers.
Als der Meister der naturalistischen Schule im Jahre 1881 seine Kritik über En Ménage im Figaro schrieb, zog er folgendes Resumé, das wir mit seinen eigenen Worten wiedergeben:
Littérature morbide, dira-t-on. Oui, peut-être. Il y a là une recherche du cas pathologique, un goût pour les plaies humaines. Mais ce que personne ne veut voir, c’est que, si le romancier va à la bête dans l’homme, l’artiste est un sensitif des plus délicats et un merveilleux ouvrier de la langue.[7]
Im Jahre 1884 überraschte Huysmans die litterarische Welt mit seinem bedeutendsten Werke, A Rebours.
Eine litterarische Revolution ist im Geiste des Verfassers vor sich gegangen. Das Auge immer auf das Sonderbare und Aussergewöhnliche gewandt, voll Hass gegen das Alltägliche und Platte, hatte er bei seinen realistischen Untersuchungen durch Übermass von Studium, durch Auftröseln der unbedeutendsten kleinen Leiden des menschlichen Lebens, gegen die anständige klassische Lehre gesündigt: ne quid nimis. Er hatte immer nach dem Unbekannten, dem Fremdartigen und Wunderbaren gesucht; hatte immer leidenschaftlich nach dem Raffinement gestrebt. In seinem Buch über die lebenden Meister (L’art moderne, 1883), einer Sammlung von Kritiken über die Pariser Salons (1879—82), lässt er deutlich erkennen, wie sehr seine übermüdeten und gefolterten Sinne nach dem Anblick von etwas Aussergewöhnlichem streben. Diejenigen Künstler, die nach dem Urteil der Menge sich eines unbestrittenen Talentes erfreuen, finden vor seinen Augen keine Gnade, weil sie malen, wie man eben gewöhnlich malt. Um Huysmans zu gefallen, muss man Ungewöhnliches leisten, die wirren Träume eines Opiumrausches mit breiten, zusammenhanglosen Zügen — das erscheint ihm als der Gipfelpunkt aller Kunst. Französische Meister wie Carolus Düran, Lefebvre, Landelle, Harpignies, Bonnat (zumal dessen Porträt von Victor Hugo), belgische Meister wie Verhas und de Jonghe, werden mit der äussersten Geringschätzung beiseite geschoben, während er Herkomer und Mesdag hoch erhebt — was diese Beiden freilich auch verdienen; — ebenso Bastian Lepage, Raffaelli, den wunderlichen Maler der Lumpensammler und Landstreicher, Degas, der Tänzerinnen und Clowns malt; Forain, der sich das Publikum der Folies-Bergère zur Darstellung erkoren hat, Zandomeneghi und endlich Odilon Redon, der Gespenster- und Geistererscheinungen auf die Leinwand bringt.[8]
[53] Diesen Eigentümlichkeiten seines Geschmacks in einem litterarischen Kunstwerk eine greifbare Gestalt zu geben, scheint ihm Anleitung zum Schaffen des A Rebours gegeben zu haben. Auf dem Titelblatt schreibt er: Il faut que je me réjouisse au-dessus du temps … , quoique le monde ait horreur de ma joie, et que sa grossièreté ne sache pas ce que je veux dire. Er entnimmt diese Worte Ruysbroeck, l’admirable.
Man fühlt sogleich, dass sich der Verfasser in eine für ihn bestimmte, vollständig abgesonderte Welt zurückziehen wird, wo ihn die brutalen Dummheiten der gewöhnlichen Menschen nicht hindern. Es liegt meiner Meinung nach etwas Ungesundes darin, wenn der Künstler aus zu grossem Eingenommensein mit sich selbst sich so hoch über seine Zeitgenossen erhebt. Es sprach nicht eben für die Billigkeit und Bescheidenheit des niederländischen Dichters Bilderdÿk, wenn dieser an seinen Freund Tydeman schreibt: „Ich kann in dieser verfluchten Welt nicht leben; wenn ich weiterexistieren soll, muss ich eine Welt à part haben.“
Und solch eine Welt will Huysmans in A Rebours uns vorführen.
Es tritt nur eine Person in diesem Buche auf, der Herzog Jean des Floressas des Esseintes. Er ist dreissig Jahre alt, schwach, nervös, blutarm; er ist der letzte kränkliche Spross eines alten Geschlechtes; sehr bewandert im Lateinischen, weil er in einer Jesuitenschule seine Erziehung genossen hatte; er ärgert sich über die Welt und ihre Freuden, da er sich nach seiner Mündigkeitserklärung durch unmässigen Gebrauch den Magen daran verdorben hat. Des Esseintes hat vergebens danach gestrebt, eine Erholung in litterarischen Kreisen zu finden — er findet in denselben nur Scheinheilige und Dummköpfe. Da fasst er den Plan, sich in die Einsamkeit zurückzuziehen und dort den Rest seines Vermögens zu verzehren. Er kauft sich nicht weit von Fontenay-aux Roses ein Haus, ein ganz abgelegenes Landhaus, in welchem ihn niemand stören wird. Dieser neue Wohnort wird nun in einem ganz exquisiten Geschmack eingerichtet. Der Einsiedler, der die Welt aus Übermass von Sinnengenuss verlässt, will den ganzen Luxus der Welt in seiner einsamen Klause um sich haben.
Der Beschreibung dieses Luxus, dem in eigenartig schönem Stil geschriebenen Protokoll über des Esseintes Beobachtungen in der Einsamkeit, ist das ganze Buch gewidmet. Ehe ich mich über die wirklich arme Erfindung ausspreche, muss ich bekennen, dass A Rebours die Arbeit eines wirklichen, ernstdenkenden Künstlers ist. Blatt für Blatt spricht von einer Feinheit, sowohl der Analyse des psychologischen Zustandes, als auch der Beschreibung des ausgesuchten Luxus Des Esseintes’ — die stets den tüchtig gebildeten, wissenschaftlichen Schriftsteller verrät.
Es ist sehr schwer, die kunstvoll stilisierten französischen Sätze entsprechend zu übersetzen, dennoch wage ich den Versuch, um mein Urteil über Huysmans durch einige Stellen seines wunderlichen, aber ausgezeichnet geschriebenen Buches zu begründen. In dem ersten Kapitel erzählt uns Huysmans ausführlich, wie Des Esseintes seine Klausnerhütte einrichtete. In den besten Tagen der Romantik [54] hat Théophile Gautier’s reiche Phantasie uns orientalische Pracht und orientalischen Glanz in seiner bekannten Novelle Fortunio geschildert. Huysmans versucht es, all das Gold und Silber, all das funkelnde Krystall, all die glänzenden Kronleuchter der romantischen Soupers, wie sie le bon Théo beschreibt, mit den verborgenen Schätzen zu überstrahlen, die Des Esseintes um sich her ausbreitet.
Vor allen Dingen lebt Des Esseintes nur in der Nacht. Er frühstückt Nachmittags um fünf Uhr, speist Nachts elf Uhr zu Mittag und nimmt früh fünf Uhr ein leichtes Abendbrot ein.
Ferner hat er sich eine Art kleiner Kajüte bauen lassen, in der ihm seine beiden Bedienten die Tafel herrichten. Sehr merkwürdig ist seine Studierstube und die ausgewählte Bibliothek, die er darin zusammengebracht hat. Alle seine Bücher sind Muster der Buchbinderkunst und alle kostbaren Ausgaben gehören zu ein und derselben Art — es sind lauter lateinische Bücher und zwar aus der spätlateinischen Periode. Seine Vorliebe fürs Lateinische, das er einst in der Schule der Jesuiten gepflegt, hatte ihn zu dieser Wahl bestimmt.
Dem klassischen Latein aus dem grossen Zeitalter eines Cicero und Horaz konnte er keinen Geschmack abgewinnen, da ihm das feierliche Geklapper gleichklingender Adjektiva und Substantiva zu sehr an die Gemessenheit der französischen Schriftsteller aus Ludwig’s XIV. Zeitalter erinnert. Er hat Widerwillen vor Virgil, weil ihn die Schulmeister den „Schwan von Mantua“ nannten, und weil er aufgeputzte Schäfer nicht leiden mag, weil es ihn verstimmte, dass er Orpheus mit einer klagenden Nachtigall verglich, weil er Aristaeus über tote Bienen weinen, und Aeneas wie ein chinesisches Schattenbild vom Anfang bis zum Ende des Epos herumlaufen sah. Aber selbst die würdevollen Dummheiten dieser Marionetten hätte er mit Geduld ertragen; er würde übersehen haben, dass Vergil Homer bestiehlt, und nicht diesen allein, sondern auch Theokrit, Ennius und Lucrez; er würde es entschuldigt haben, dass der Dichter im zweiten Buche der Æneis, wie Macrobius nachgewiesen hat, aus einem Gedichte des Peisandros[9] borgt; aber er kann die Hexameter mit ihrem Geklapper wie von Blechtrommeln, wie von leeren Kochtöpfen nicht ertragen; er kann die immer gleichmässig wiederkehrende Zäsur nicht leiden, er kann es nicht ausstehen, dass jeder Vers mit der langweiligen Aufeinanderfolge eines Daktylus und eines Spondeus schliesst.
Es stört ihn überdiess, dass dies monotone Metrum so viele nichtssagende Flickworte zulässt, dass die homerischen Epitheta so oft der Kraft, der Plastik, der Farbe entbehren.
War daher seine Bewunderung für Virgil mehr als geteilt, seine Achtung vor den naiven Ausdrücken des Ovid nur sehr mässig, so war sein Widerwille gegen Horaz geradezu ohne Grenzen.
Er verglich die verzweifelten Anstrengungen dieses Dichters, anmutig zu scheinen, mit den Bemühungen eines Elephanten, Polka zu tanzen; er wollte das unverständige Geschwätz dieses Stümpers nicht [55] anhören, er sah geringschätzig auf diesen weiss angestrichenen Clown herab.
Inbezug auf die Prosa hatte des Esseintes ebenso wenig Wohlgefallen an der bilderreichen Sprache, den unnötigen Metaphern und den wirren Auseinandersetzungen des Cicero. Er war durchaus unzufrieden mit des Mannes geschraubten Sätzen, mit dem Überfluss seiner patriotischen Überschwenglichkeit, mit dem Bombast seiner Reden, mit der Schwerfälligkeit seines Stils, in dem er weder Mark noch Bein fand; mit der unerträglich langen Reihe ebenso langer Beiwörter am Anfang der Sätze; mit dem stets wiederkehrenden Formmotiv seiner gereckten Perioden, das eine Reihe verbindender Worte nur sehr gebrechlich unter sich in Verbindung bringt. Der durch seine Kürze bekannte Cäsar flösste ihm gerade um des Gegenteils willen keine grössere Begeisterung ein; seine Sparsamkeit im Ausdruck, seine Trockenheit verletzen ihn.
Mit einem Wort, weder die genannten, noch alle übrigen Schriftsteller, die die Wonne der sogenannten Gelehrten sind, waren nach seinem Geschmack. Sallust, der vielleicht weniger farblos war als die anderen, gefiel ihm nicht; ebenso wenig der sentimentale und feierliche Livius; der bleiche, aufgedunsene Seneca; der wässerige und kränkliche Sueton; auch nicht Tacitus, der in seiner Kürze kräftigste, schärfste, energischste von allen. Auch die Dichter liessen ihn kalt; so Juvenal trotz einzelner vortrefflicher Verse, und Persius trotz seiner mysteriösen Anspielungen. Tibull und Properz, Quintilian und die beiden Plinius, Statius und Martialis von Bilbilis schob er bei Seite, und konnte sich selbst nicht mit Terenz und Plautus einverstanden erklären, trotz des netten Jargons voll Archaismen bei dem letzteren. Die lateinische Litteratur wurde für Des Esseintes erst bedeutend mit Lucan.
Lucan, der gewöhnlich wegen des übertriebenen Pathos seiner Pharsalia willen nicht besonders hoch angeschrieben steht, gefiel ihm. Der Aufputz der Lucanischen Verse und das Schillernde seiner Epitheta füllten für ihn die Leere des Inhalte aus und liessen ihn die Gedankenarmut des Dichters übersehen; aber den meisten Vorzug gab er doch Petronius. Seine feine Beobachtungsgabe, seine gewissenhafte Analyse, seine wunderbar schönen Schilderungen, ganz ohne jede Parteilichkeit, des täglichen Lebens in Rom, liessen ihn immer wieder mit neuem Genuss das Satyricon zur Hand nehmen.
Des Esseintes sah in diesem realistischen Roman etwas, woran er ebensoviel fand, wie an den wenigen französischen Romanen, die ihm zusagten. Er fand hier wie dort Schilderungen nach dem Leben ohne jede weitere Nebenabsicht, und, wie sehr man dem auch widersprechen möge, auch ohne Satire. Er fand eine Geschichte ohne Handlung, die Schilderung von den Abenteuern einiger Galgenstricke, ohne eigentlichen Schluss und ohne Moral. Er fand vollkommene Neutralität des Schriftstellers, der niemals seine Meinung äussert, ob er nun die Thaten oder Ansichten seiner Personen gutheisst oder tadelt, der uns alle Verkehrtheiten einer verjährten Civilisation, eines sich auflösenden Staates vorführt.
Er betrauerte es tief, dass Eustion und Albutia, die beiden Werke des Petronius, von denen Planciades Fulgentius spricht, verloren gegangen sind.[10] Aber er tröstete sich als Liebhaber seltener Bücher [56] durch den seltenen Druck des Satyricon аus dem Jahre 1585 von Janus Dousa in Leyden herausgegeben, den er besitzt.[11]
Ausser Petronius enthielt die Bibliothek Des Esseintes’ noch verschiedene Werke aus dem zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung. Fronto, dessen trockener Stil voll Archaismen ihn verletzte, und Aulus Gellius, dessen Attische Nächte ihn langweilten, waren aus seiner Sammlung verbannt; den Ehrenplatz nahm Apulejus ein; Des Esseintes besass eine editio princeps in Folio, gedruckt 1469 in Rom, von dessen Werken.
Dieser Afrikaner gefiel ihm. Das Latein seiner Metamorphosen hatte für ihn etwas Neues, Anziehendes. Seine Neologismen, die für die Umgangssprache in einem römischen Winkel Afrika’s erfunden zu sein schienen, entzückten ihn. Der joviale Apulejus bildete einen ergötzlichen Gegensatz zu dem christlichen Apologeten desselben Jahrhunderts, zu dem ermüdenden Minutius Felix, zu Tertullianus u. a., die er alle nur wegen der schönen Drucke seiner Exemplare behielt.
Obgleich Des Esseintes sich ziemlich viel um Theologie bekümmert hatte, liess ihn doch der Kampf der Montanisten gegen die christliche Kirche, und der Widerstand der letzteren gegen die Gnostiker ziemlich kalt, so dass er Tertullianus’ Apologeticus und Abhandlung über die Geduld, trotz ihres höchst eigenartigen Stils, der sich durch Kürze und Doppelsinnigkeit der Ausdrücke auszeichnet, beinahe nie zur Hand nahm, sondern nur zuweilen ein paar Seiten aus seiner Abhandlung De cultu feminarum las, worin Tertullian die Frauen dringend beschwört, sich doch nicht mit edlen Steinen und kostbaren Stoffen zu überladen, sich doch nicht mit Schminke zu bedecken, in der Absicht, dadurch die Natur verbessern und verschönern zu wollen.
Da diese Ideen den seinen gerade entgegengesetzt, machten sie ihm Vergnügen; er fand auch, dass Tertullian als Bischof von Karthago manche Absonderlichkeiten hatte. Er stellte also den Menschen über den Schriftsteller.
Tertullianus lebte in einer sehr stürmischen Zeit, unter Caracalla, unter Macrinus, unter dem wunderlichen Hohenpriester von Emesa, Heliogabalus. Dabei fuhr er ruhig fort, seine Predigten auszuarbeiten, während das römische Reich in seinen Grundvesten erzitterte und die aus Asien Einzug haltende Sittenverderbnis mit Jubel begrüsst wurde. Mit der grössten Gemütsruhe predigte er Keuschheit, Mässigkeit, Einfachheit der Kleider, während Heliogabalus auf Silberstaub und Goldsand wandelte, sich das Haupt mit den priesterlichen Tiaren deckte, ein geistliches Gewand mit Edelsteinen ganz übersät trug, umgeben von seinen Eunuchen Frauenhandarbeiten ausführte und sich Kaiserin nennen liess …
Des Esseintes sah mit Befriedigung diesen Widerspruch; er hatte auch seine Freude daran, wahrzunehmen, wie das bei Petronius auf der [57] Höhe seiner Entwickelung stehende Latein sich langsam veränderte. Die christliche Litteratur verdrängte die altrömische und brachte mit ihrem neuen Gedankenkreis auch neue Worte, neue Wendungen, die vorher im Lateinischen fast ganz unbekannt gewesen waren, da sie abstrackte Begriffe auszudrücken hatten. Tertullianus war einer der ersten, der das Beispiel dazu gab.
Dieser Übergang von dem klassischen ins christliche Latein hatte nicht viel Erfreuliches, als nach Tertullian’s Tode seine Schüler, St. Cyprianus, Arnobius und der weichliche Lactanz sein Werk fortsetzten. Es war eine teilweise Auflösung der Sprache; zuweilen traten noch ciceronische Wendungen ohne den eigenartigen Duft des vierten Jahrhunderts und der folgenden auf, — des Duftes, den das Christentum der heidnischen Sprache gegeben hat, des Duftes, wie von edlem Wild, das erliegt, gleich der Civilisation der alten Welt und der beiden Kaiserreiche, die der Gewalt der andringenden barbarischen Völker erlagen.
Nur ein einziger christlicher Dichter, Commodianus von Gaza, repräsentiert das dritte Jahrhundert in der Bibliothek Des Esseintes’. Das Carmen apologeticum aus dem Jahre 259 ist eine Blumenlese von Ermahnungen, die in Acrosticha künstlich zusammengefügt, und in Hexametern ohne jegliche Sorge um die Quantität der Sprache und mit reichlichen Hiaten, ja oft selbst in Reimen geschrieben sind, wie wir unter den Dichtungen der christlichen Kirche später noch so viele finden werden.
Aber diese wilden, ungeglätteten Verse mit den rohen Strassenausdrücken flössten ihm grösseres Interesse ein, als der vermoderte Stil eines Ammianus Marcellinus und Aurelius Victor, eines Symmachus oder Macrobius; er zog Commedianus selbst dem Claudianus, Rutilius und Ausonius vor, die noch regelmässige, klassische Verse schrieben.
Diese Dreizahl stand damals an der Spitze der lateinischen Dichter; sie erfüllten das zusammenstürzende Kaiserreich mit ihren Namen; so der christliche Ausonius mit seinen Hymnen auf Rom, seinen Strafreden gegen die Juden und die Mönche; seiner Beschreibung einer Reise von Rom nach Gallien, worin er sein grosses Talent zu Schilderung und Beschreibung an den Tag legt, und mit freier Beobacbtungsgabe der Natur ein liebevolles Auge schenkt. So schildert er die Spiegelung der Landschaft im Wasser, den Zug der Nebel um die Spitzen der Berge.
Claudianus, ein wiedererstandener Lucanus, beherrscht das ganze vierte Jahrhundert mit dem Metallklang seiner Verse; seine Hexameter sind grossartig, sie ziehen mit stolzem Pompe daher, während das westliche Kaiserreich untergeht und die Barbaren schon vor den Thoren stehen. Claudianus lässt zum letztenmale das klassische Altertum wieder aufleben; er besingt den Raub der Proserpina und wir erstaunen über die glänzenden Farben seiner Zeichnung.
Claudianus ist der letzte grosse Dichter der altklassischen Schule; auf ihn folgen nur geistliche Schriftsteller: der spanische Priester Paulinus, Ausonius’ Schüler; Juvencus, der eine Versparaphrase der Evangelien gibt; St. Burdigalensis, der dem Vergil nachzustreben versucht, und noch eine ganze Reihe von Kirchenvätern und Kirchenheiligen: Hilarius von Poitiers, der Athanasius des Occidents; Ambrosius, der langweilige christliche Cicero; Hieronymus, der Verfasser jener Bibelübersetzung, die zur Grundlage der Vulgata gedient hat, und endlich im fünften Jahrhundert Augustinus, der Bischof von Hippo.
Des Esseintes kannte Augustinus, den Begründer der christlichen [58] Orthodoxie, aus seinen Schuljahren her; er las deshalb nur selten seine Bekenntnisse und De Civitate Dei. Dagegen durchblätterte er zuweilen die Psychomachia des Prudentius, des Schöpfers des allegorischen Genres in der Poesie, oder die Werke des Bischofs Sidonius Appolinaris, der den heidnischen Olymp mit geistreicher Wehmut bekämpft.
Wir gaben einen möglichst getreuen Bericht von den Aussprüchen Huysmans’ über Des Esseintes’ Bibliothek. Dass dieser wunderliche Nervenleider ein gründlicher Kenner der lateinischen Litteratur ist, kann ohne parteilich erscheinen zu wollen, durchaus nicht geleugnet werden. Nun tritt plötzlich Huysmans auch als ein Mann der klassischen Bildung auf, und zeigt eine Belesenheit in der lateinischen Litteratur von sechs Jahrhunderten, wie wir sie nur selten bei den Vorkämpfern der neuesten litterarischen Helden finden.
Das Kapitel über die Des Esseintes’sche Bibliothek bietet eine so merkwürdige Probe von Gelehrtheit, wie wir sie bei dem Verfasser von Marthe, von Croquis Parisiens, von En Ménage gewiss nicht erwartet hätten. Aber in einer Hinsicht überrascht uns Huysmans’ Urteil über die lateinische Litteratur durchaus nicht. Nach seiner Meinung müssen alle Schriftsteller, die bis jetzt allgemein für Meister gehalten wurden, als böse Buben aus dem Vorhof des Tempels gejagt werden.
Vergil wird als Plagiator an den Pranger gestellt, Horaz wird ein Stümper genannt, Cicero als aufgeblasener Grosssprecher beiseite geschoben. Huysmans — denn Huysmans und des Esseintes sind hierin ganz identisch — findet Geschmack an Lucanus, weil dieser Dichter durch die wunderlichste Wahl seiner Ausdrücke sein Publikum kitzelt; vor allen liebt er Petronius und Apulejus, weil sie die einzigen Romanschreiber des Altertums sind, weil ihr Realismus vor nichts zurückschreckt.
Es geht damit, wie mit seinem Urteil über die Malerei. Was allgemeine Anerkennung findet, weist er weit von sich ab. Was die verflossenen Jahrhunderte unter Zustimmung aller Autoritäten für schön hielten, nennt Huysmans hässlich. Es muss nach seiner Meinung ein Ende gemacht werden mit der Herrschaft früher beweihräucherter Schriftsteller; die Götter müssen von dem Altare gestürzt und die Halbgötter darauf erhoben werden. Der unter den Malern begonnene Bildersturm muss mit den lateinischen Dichtern und Prosaschreibern fortgesetzt werden.
Was für ein wunderliches Buch A Rebours ist, zeigt deutlich dies geistreich geschriebene Kapitel über die Geschichte der lateinischen Litteratur, das nur geschrieben ist, um den eigenartigen Seelenzustand Des Esseintes’ zu schildern. Mit solchen ausführlichen Einschiebseln ist der Roman ganz und gar überladen. So kauft zum Beispiel jener moderne Einsiedler bei Chevet im Palais-Royal eine Schildkröte, und lässt die Schale des Tieres vergolden und mit kostbaren Steinen verzieren. Bei der Auswahl dieser Steine fügt er eine ausführliche Stelle über Edelsteine ein, die wiederum eine ungewöhnliche Kenntnis und ein ganz besonderes Interesse an fabelhafter Pracht à la Tausend und eine Nacht' oder à la Fortunio verrät. Diese Vorliebe für orientalisch-romantische Pracht begleitet Des Esseintes in allen Augenblicken seines einsamen Lebens. Der Thee, den er trinkt, wird durch besondere [59] Karawanen aus China nach Russland gebracht, und hat die allerseltsamsten Namen: Si-a-Fayoune, Mo-you-taun und Khansky; diese gelben Theesorten sind für jeden gewöhnlichen Sterblichen unerreichbar.
Ebenso geht es mit seinen Likören. Er geht dabei von der Idee aus, jeder Likör erinnere an den Ton eines Musikinstrumentes. Des Esseintes buvait une goutte ici, là … (et) arrivait à se procurer, dans le gosier, des sensations analogues à celles que la musique verse à l’oreille. Der Curaçao erinnert seiner Meinung nach an die Klarinette, der Kümmel an die Hoboe, der Anisette an die Flöte, Kirschbranntwein an die Trompete, Whisky an die Trombone, Cognac an die Tuba, Rum an die Altviole, reiner und alter Bitterer an — den Kontrabass …
Solche beinahe kindische Wunderlichkeiten sind durch das ganze Buch verbreitet; besonders bemerkenswert unter denselben ist eine Abhandlung über den Geruch und allerlei Riechwerk. Die Einsamkeit und seine wunderliche Lebensweise hat ihn überreizt, dies ruft allerlei Halluzinationen der Sinneswerkzeuge hervor. Zuerst tritt die Halluzination des Geruchs auf. Der Geruch einer gewissen Mischung wohlriechender Spezereien quält ihn; nun sucht er durch andere Riechwasser diesen Duft zu vertreiben, da er in der science du flair sehr bewandert war; da er die Produkte aller berühmten Odeurfabrikanten eifrig untersucht hatte, konnte er selbst eine Geschichte der Parfümerien zusammenstellen. Er besass eine Sammlung aller möglichen und unmöglichen Odeurs, selbst la véritable baume de la Mecque aus Arabia petræa, dessen Monopol der Sultan hat.
Die schönsten Seiten in A Rebours sind der Beschreibung der Kunstwerke gewidmet, mit denen sich Des Esseintes zum Schmuck seiner Einsamkeit umgeben hat. Dies verschaffte dem Verfasser die Gelegenheit, ein vorzügliches Kapitel über den Maler Gustave Moreau zu schreiben. Seine Beschreibung von Moreau’s Salomé ist ein stilistisches Meisterwerk. Das Gemälde tritt durch jedes Wort deutlicher, greifbarer, lichter hervor. Man höre:
Der Vierfürst Herodes sitzt auf hohem Throne, der den ehrfurchtgebietenden Formen des Hauptaltars einer Kathedralkirche gleicht; an den Seiten stützen ihn Pfeiler, ihn ziert bunter Schmuck von Lapis lazuli und rotem Sardonix. Über seinem Haupte schwebt eine Priesterkrone, die Hände legt er breit ausgestreckt auf die Kniee. Sein Antlitz ist gelb, pergamentfarbig, runzlig; sein weisser Bart schwebt wie eine weisse Wolke über den kostbaren Steinen seines Gewandes von Goldbrokat. Wie um die bewegungslosen Götter der Hindus, wird um ihn Rauchwerk verbrannt, von dem feine blaue Wolken emporsteigen.
Salome erscheint, und ihr Bild ist von so glänzender Farbe, dass wir hier Huysmans selbst das Wort geben müssen.
„Elle commence la danse qui doit réveiller les sens assoupis du vieil Hérode; ses seins ondulent et, au frottement de ses colliers qui tourbillonnent, leurs bouts se dressent; sur la moiteur de sa peau les diamants altachés scintilent; ses bracelets, ses ceintures, ses bagues, crachent des étincelles; sur sa robe triomphale, couturée de perles, ramagée d’argent, lamée d’or, la cuirasse des orfèvreries dont chaque maille est une pierre, entre en combustion, croise des serpenteaux de feu, grouille sur la chair mate, sur la peau rose thé, ainsi que des insectes splendides aux élytres éblouissants, marbrés de carmin, ponclués de jaune aurore, diaprés de bleu d’acier, tigrés de vert paon.“
Man muss gestehen, dass diese seltene Farbenpracht mit glänzendem Stift gemalt ist. Huysmans steht hier als Stilist unmittelbar neben Flaubert, de Goncourt und Zola, während einzelne Züge auch [60] an Théophile Gautier erinnern. Noch höher steigt sein stilistischer Schwung, wenn er ein Aquarell Gustave Moreau's beschreibt; gleichsam eine Fortsetzung des Gemäldes.
Wieder wird uns der Palast des Herodes vorgeführt, diesmal aber als maurische Alhambra, von goldenen und silbernen Säulen getragen, deren Fussboden schimmernde Perlmutter ist. Das abgeschlagene Haupt des Täufers ruht auf einer Schüssel. Salome sieht es sich erheben in lichtem Glanze, den ihre Edelsteine leuchtend widerspiegeln. Wieder lassen wir die Schilderung von Salome’s Bild mit den Worten des Prosadichters folgen:
„Elle est presque nue; dans l’ardeur de la danse, les voiles se sont défaits, les brocarts ont croulé; elle n’est plus vêtue que de matières orfévries et de minéraux lucides; un gorgerin lui serre de même qu’un corselet la taille, et, ainsi qu’une agrafe superbe, un merveilleux joyau darde des éclairs dans la rainure de ses deux seins; plus bas, aux hanches, une ceinture l’entoure, cache le haut de ses cuisses que bat une gigantesque pendeloque où coule une rivière d’escarbouiles et d’éméraudes; enfin, sur le corps resté nu entre le gorgerin et la ceinture, le ventre bombe, creusé d'un nombril dont le trou semble un cachet gravé d’onyx, aux tons laiteux, aux teintes de rose d’ongle.“
Huysmans hat in A Rebours sein Meisterstück geliefert. Sein Werk bietet eine eigenartige Erscheinung. Huysmans, der zu der kleinen Schar der jüngeren Naturalisten zu gehören schien, lehnt sich mit diesem Werke gegen die Schule auf, zu der er gehört. Für seine Sœurs Vatard hatte er all die dunklen Farben und die unangenehme Atmosphäre des armen Fabrikpersonals von Paris mit erstaunlichem Fleisse studiert, in A Rebours macht er sich mit dem in Düften und Likören und Kunstwerken schwelgenden Des Esseintes vertraut.
Die Erklärung für diesen eigentümlichen Entwickelungsgang ist leichter, als es scheinen möchte. Huysmans zeigt in allem, was er vor A Rebours geschrieben hat, eine eigenartige Gemütsstimmung. Seine Weltbetrachtuug führt ihn zur Entzauberung.
Der Roman En Ménage ist vom Anfang bis zum Ende nur fortlaufende Entnüchterung. Er sagt von sich selbst, er sei ecœuré par l’ignominieuse mufflerie du présent siècle. Unzufriedenheit und Geringschätzung für die Kreise, für die Gesellschaft, in der er lebt, sprechen aus jedem Worte. In A Rebours will Des Esseintes einen zufällig am Wege aufgelesenen sechszehnjährigen Knaben sittlich zugrunde richten. Er gibt ihm reichlich Geld und treibt ihn zur Ausschweifung an , will ihn absichtlich ins Verderben stossen. Und er tröstet sich mit den Worten: J’aurai contribué dans la mesure de mes ressources, à créer un gredin, un ennemi de plus pour cette hideuse société qui nous raçnonne.
Es klingt aus diesen Worten ein bis zum Hass herangewachsener tiefer Missmut. Die Welt entspricht nicht den Erwartungen des jungen Künstlers. Talente zweiten Ranges, Octave Feuillet, André Theuriet, Georges Ohnet u. a. werden vom Publikum auf den Händen getragen. Von Ohnet’s Maître de Forge sind 234 Auflagen erschienen, seine Comtesse Sarah erlebte 152. Selbst Zola konnte mit l’Assommoir und Nananicht eine solche Popularität erringen. Huysmans hat im kleinen [61] Finger mehr Talent, als Ohnet in der ganzen Hand, aber Huysmans bleibt unbekannt, wird wenigstens nicht gelesen.
Darin liegt der Grund zu Unruhe und Entrüstung. Wie seine Helden André, Cyprien und Des Esseintes sieht auch er voll Ekel herab auf alle geistigen und materiellen Genüsse , die ihm das Leben bieten kann. Alles Bestehende ist wert, dass es zugrunde geht. Die Litteratur der Gegenwart und Vergangenheit, die Malerei ebenfalls, bieten nur sehr ausnahmsweise ein wirkliches Kunstwerk dar. Diese Meinung kann durch eine Menge Stellen in Huysmaus Werken bewiesen werden.
In diesen Zustand der Verbitterung tritt bei Huysmans’ noch die eigentümliche Erscheinung auf, dass er sich trotz seines wundervollen französischen Stils nicht als Franzose fühlt, sich nur schwer in französische Zustände schickt. Seine Antwort auf die an ihm gerichtete Frage, ob er ein guter Patriot sei, lautete:
„Tout ce que je puis vous dire, c’est ceci: je hais par dessus tout les gens exubérants. Or tous les Méridionaux gueulent, ont un accent qui m’horripile, et par-dessus le marché, ils font des gestes. Non, entre les gens qui ont de l’astracan bouclé sur le crâne … et de grands flegmatiques et silencieux Allemands, mon choix n’est pas douteux. Je me sentirai toujours plus d’affinités pour un homme de Leipzig que pour un homme de Marseille. Tout, du reste, tout, excepté le Midi de la France, car je ne connais pas de race qui me soit plus particulièrement odieuse.“[12]
In dieser Antwort steckt etwas Holländisches.
Huysmans kann die lautsprechenden Franzosen mit ihren lebhaften Gebärden nicht ausstehen; er hat auch holländische Landsleute, die mit ihm gleicher Meinung sind. Fassen wir alle seine Meinungen über Land, Kunst, Litteratur etc. zusammen, so sehen wir, dass er in beständiger Feindschaft mit den herrschenden Zuständen lebt, und das macht seine philosophische Weltanschauung natürlich pessimistisch. Und gerade in diesem Punkte liegt der grosse Unterschied zwischen Huysmans und Zola. Zola hat als Schriftsteller einen ernsten Krieg gegen einige der herrschenden, litterarischen Anschauungen geführt, aber er hat doch Ehrfurcht vor dem neunzehnten Jahrhundert und seine mächtigen Errungenschaften auf wissenschaftlichem Gebiet. Seine Rougon-Macquart werden mit ihren zwanzig Teilen ein Gedenkbuch der bürgerlichen Gesellschaft in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts sein.
Es fällt sogleich auf, dass sich Huysmans in A Rebours von den eigentlichen Naturalisten loslöst, da er in der Geschichte Des Esseintes’ wieder eine jener histoires à dormir debout geschrieben hat, vor denen ihr Meister sie so oft gewarnt hatte. Durch den wunderbaren Zirkellauf des litterarischen Lebens kehrt er zur Wertherstimmung und zu der verzweifelten Weltanschauung des Réné zurück.
Es ist natürlich, dass jemand, der von der ignominieuse mufflerie du présent siècle und von der hideuse société qui nous rançonne spricht, keinen Gefallen an dem gründlichen Studium dieser selben Gesellschaft finden kann. Er schleudert die Feder weg, mit der er seine Croquis Parisiens geschrieben hat und entwirft A Rebours. Er geht jetzt einen ganz anderen Weg. Er stellt sich an die Seite derer, die sich jetzt gegen ihre Zeit aufgelehnt haben, wie Charles Baudelaire, dessen [62] Fleurs du mal (1857) trotz des genialen Fluges des Verfassers, ein entehrendes Urteil traf. Und da Baudelaire die Contes extraordinaires und die Contes grotesques des berühmten Amerikaners Edgar Allan Poe übersetzt hat, wurden Baudelaire und Poe seine litterarischen Hausgötter, neben die mit der Zeit noch andere ältere oder jüngere gestellt wurden: Louise Ackermann, Barbey d’Aurévilly, Paul Verlaine, Ernest Hello und Villiers de d’Isle-Adam.
Der Verfasser von A Rebours lebt in der Stimmung, wie sie die Vorläufer der Romantik empfanden; er steht nicht weit entfernt von Henri Beyle, wenn es sich um die dauerndsarkastische Stimmung seiner Seele handelt, und nähert sich der Romantik Théophile Gautier’s und Gérard de Nerval’s, was seine Vorliebe für fremdländische Pracht und raffinierten Luxus betrifft. In der Bewunderung für das überirdisch-geheimnisvoll Spukhafte, wie es der Maler Odilon Redon und der Dichter Edgar Allan Poe zum Ausdruck bringt, steht er auf einem Niveau mit der französischen Romantik von 1830. Ein Deutscher, der gerade damals in Paris ein gewisses Aufsehen erregte, war unverschämt genug, Hoffmann zu bestehlen und unter seinem noch ganz unbekannten Namen, Loewe-Veimars, Le Violon de Crémone herauszugeben. Als dieser litterarische Betrug herauskam, zeigte Loewe-Veimars durchaus keine Verlegenheit, sondern gab bald darauf seine Contes d’Hoffmann heraus, die dieselbe Bedeutung für Gérard de Nerval und Théophile Gautier haben, wie Edgar Allan Poe für Baudelaire und Huysmans.[13]
Es herrscht in diesem Punkte zwischen Huysmans und den eifrigsten Vorkämpfern der jungen Romantik von 1830-1850 eine auffällige Übereinstimmung. Die Jugend von 1830 freilich war voll Lebenslust und Hoffnung. Die Jugend von 1880 dagegen scheint durch Unlust und Langeweile von einem Extrem ins andere getrieben worden zu sein. Die politischen Zustände von 1815-1830, die damit verbundenen gesellschaftlichen Leiden, enttäuschten manchen jungen Schwärmer, da man doch von der neuen Ordnung der Dinge nach der grossen Revolution die herrlichsten Folgen erwartet hatte.
Schon das Kaiserreich zeigt ein solches Beispiel von Enttäuschung in Étienne Pivert de Sénancour; geboren zu Paris 1770, von allen Leiden einer schwächlichen Jugend verfolgt, nach der Schweiz ausgewandert, schrieb er nach anderen Vorläufern seines Talentes sein Hauptwerk, den psychologischen Roman Obermann (1804), in welchem er ein ähnliches Einsiedlerleben beschreibt, wie Huysmans in A Rebours. Diese äusserliche Übereinstimmung ist bemerkenswert. De Sénancour gehört dem achtzehnten Jahrhundert an und steht unter den verzweifelten Franzosen seiner Zeit obenan, die als Emigrierte den Lauf der Begebenheiten in der Fremde mit heftigster Entrüstung abwartend verfolgen. Man hat ihn mit recht den Schöpfer des französischen Werther genannt. Aber in einem Punkte weicht Obermann entschieden von Werther ab; das Buch de Sénancour’s erzählt keine Liebesgeschichte, dagegen gibt es wie Werther gefährliche Anleitung zum Selbstmord. Wie A Rebours für Überreizte und Übersättigte, so war [63] Obermann für Unglückliche geschrieben.[14] Der Held Obermann führt ein Eremitenleben wie Des Esseintes, die Phasen seines Seins sind aber von den Lebenszuständen der Goethe’schen Gestalt gänzlich verschieden. Obermann scheut sich davor, einen festen Wirkungskreis anzunehmen, weil er dadurch seine Freiheit verliert; des Esseintes hat zuviel genossen von den Freuden dieser Welt, als dass für ihn noch etwas anderes bliebe, als die ausgesuchteste Pracht für ihn allein in der Einsamkeit. Die Einsamkeit Obermann’s ist weniger kompliziert als die Des Esseintes’; er schweift hoch in den Spitzen der Alpenriesen herum, dort begegnet ihm kein anderes lebendes Wesen, als der furchtbare Geier der Berge, der mit unheimlichem Schrei in die Tiefe taucht.
Denkt man an die Persönlichkeit beider Schriftsteller, so wird der Unterschied zwischen beiden noch augenfälliger. De Sénancour war aus politischen und persönlichen Gründen — sein Vater hatte ihn in ein Seminar stecken wollen — nach der Schweiz geflüchtet; dort verheiratete sich der gebrechliche Jüngling, verlor aber früh seine Frau. Sein Lebenlang bewahrte er Jean-Jacques Rousseau warme Bewunderung. Er selbst war ein tief melancholisches, unglückliches Wesen. Die romantische Zeit schwärmte für seinen Obermann, dessen feine, psychologische Züge man verstand und würdigte. Bei seinem Erscheinen, 1804, hatte das Buch kein besonderes Aufsehen gemacht, nach 1830 ist es für die ausgewählten Geister der Romantik ein Lieblingsbuch geworden.
Huysmans wird seinen Des Esseintes schwerer verteidigen können, als Sénancour seinen Obermann. Die Misanthropie in A Rebours ist nur durch den tiefen Missmut zu erklären, der, wie in den Werken Baudelaire’s, in einem chronischen Nervenleiden wurzelt.
Kein litterarischer Pessimismus, kein Verlassen seiner Meister Flaubert, de Goncourt, Zola führt ihn zu seiner neuesten Vorliebe für Baudelaire und Edgar Allan Poe. Vielleicht ist es ihm ein Dorn im Auge, dass die jungen Naturalisten nur gar zu schnell mit ihren eigenen Arbeiten zufrieden sind und ihren Vorbildern ohne Selbstprüfung nachfolgen. Da er einen Widerwillen vor allem hat, was nicht sorgfältig und gründlich durchgearbeitet ist; da er zu seiner Entrüstung vielen modernen Schriftstellern ohne Farbe und Charakter eine grosse Popularität zuteil werden sieht, strebt er nach etwas ganz Eigenartig-Besonderem und kommt zur Bewunderung des Fremden, des Ungeheuerlichen, wenn dieses nur von dem allgemein Anerkannten und Gepriesenen abweicht.
In dieser Gemütsstimmung kehrt er sich selbst unbewusst zu der pessimistischen Richtung zurück, und stellt neben Werther, René und Obermann seinen Des Esseintes als nächsten Geistesverwandten. Er teilt mit den beiden krankhaft angelegten Naturen, Gérard de Nerval und Charles Baudelaire, deren Melancholie zuweilen an Wahnsinn grenzt, die Sucht nach dem Ungewöhnlichen, den Hass für das alltägliche. Gérard de Nerval schwärmte für Hoffmann, der, wie schon gesagt, in Frankreich durch Loewe-Veimars’ Übersetzung bekannt geworden war; Charles Baudelaire’s Held war der Amerikaner Edgar Allan Poe, den er selbst ins Französische übersetzte.
Es ist ein tief beklagenswerter Umstand, dass diese vier grossen [64] Künstlernaturen, de Nerval, Baudelaire, Hoffmann und Poe verhältnismässig so früh ihrem Wirken entrissen worden; ausser Hoffmann gingen sie alle in der Umnachtung des Wahnsinns aus der Welt. Das Dämonische ist allen eigenstes Element. In ihrem Leben ist ein Zug, der an wandernde Zigeuner mahnt. Gérard de Nerval verschleuderte ein kleines Vermögen in Blumen seltener Art, die er alle Abende einer Künstlerin, Jenny Colon, darbrachte, in Opernguckern und Stöcken, wie wunderlich dies erscheinen möge. Mit diesen Stöcken brachte er ihr klopfend allabendlich seine Huldigung dar. Baudelaire lebte in beständiger Feindschaft mit seinem Stiefvater, dem Oberst Aupick, den er einst bei einem Diner zu erwürgen gestrebt hatte, so dass ihn dieser nach Mauritius sandte. Dort lernte er Englisch. Als er später die Erbschaft seiner Mutter durchgebracht hatte, ruinierte er seine Gesundheit durch steten Opiumgenuss. Hoffmann, der anfänglich in Posen und in Warschau ein ungeregeltes Leben führte, wurde später Kapellmeister eines kleinen Orchesters, und verlor nun vollends alles Mass in seinem Leben. Er schrieb um zu trinken, und trank um zu schreiben, sagt Eichendorff. Edgar Allan Poe, der Sohn armer unglücklicher Schauspieler, die bei ihrem frühen Tode ihn im tiefen Elend zurückliessen, wurde durch die Grossmut eines reichen Kaufmanns, John Allan, aus dem Staube emporgehoben und erzogen, aber auch durch masslose Zärtlichkeit verdorben. Seine Unmässigkeit und seine Spielsucht verschlossen ihm alle amerikanischen Universitäten, kein Mittel, ihn zu bessern, half; so verlor er endlich die Gunst seines Wohlthäters und zweiten Vaters und war genötigt, seinen Unterhalt mit litterarischer Arbeit zu verdienen. Er führte, was die Engländer a hand-to-mouth life nennen, bis er schliesslich in einem Hospital zu Baltimore im Wahnsinn starb.
Viele grosse Künstler sind früh gestorben; aber in dem Leben dieser vier liegt eine ganz besondere Tragik. Grosses Talent, aussergewöhnliche Begabung, vortreffliche geistige Schöpfungen, verlorene Illusionen, und zum Schluss der Tod in der Blüte des Lebens — das war ihr Los. Das Krankhafte und Singuläre ihrer Persönlichkeit in Verbindung mit der Flamme des Genies, die ihre Seele entzündete, erzeugte jenes eigentümliche Aroma, das Des Esseintes so gerne einatmete. Huysmans ist ruhiger als seine gegenwärtigen Vorbilder, Baudelaire und Poe. Das holländische Blut in ihm spricht oft noch recht vernehmlich, wenn auch die Pariser Erziehung, die er genossen, eine gewisse Unruhe und Verzagtheit hineingebracht hat, die ihn verhindert, mit echt holländischer Ruhe zu handeln und zu denken.
Er hat mit A Rebours seine künstlerische Charakteristik am klarsten dargelegt. Da wir noch viel von seiner Feder zu erwarten haben, steht uns noch kein Endurteil über ihn zu. En Rade, sein in der Revue indépendante erschienener Roman, ist bereits A Rebours gefolgt.
(Autorisierte Übersetzung von
Lina Schneider - Köln.)
- ↑ Man lese darüber seinen Roman En ménage, Paris, 1881. Charpentier. S. 42-54.
- ↑ Les hommes d’aujourd’hui, von A. Meunier, 6. Band, No. 263. Paris, Vanier, Quai Saint Michel, 19.
- ↑ Man vergleiche H. Kœrting: Geschichte des französischen Romans im XVII. Jahrhundert, Bd. II: Der Realistische Roman.
- ↑ Marthe, zweite Auflage, S. 68—70.
- ↑ Ary Prins, der einen sehr guten Artikel über Huysmans schrieb (Nieuwe Gids, 1. Juni 1886) ist daher im Unrecht, wenn er sagt: In der Marthe hat Huysmans zuerst unter allen modernen Romanschreibern die gefallene Frau ohne alle Sentimentalität, in ihrem vollen Elend mit all ihren guten und schlechten Eigenschaften gezeichnet.
- ↑ Émile Zola, Le Roman expérimental (Paris 1886 bei Charpentier), S. 242.
- ↑ Émile Zola, Une Campagne, 1880—81, Paris 1882, S. 256.
- ↑ Wie Odilon Redon malt, schildert Huysmans selbst in seinem Art moderne, S. 276. Man vergleiche seine Beschreibung einer Zeichnung Redon’s: Un œil blanc roule dans un pan de ténèbres, tandis [53] qu’émerge d’une eau souterraine et glaciale, un être bizarre, un amour vielli de Prud’hon, un fœtus du Corrège, macéré dans un bain d’alcool, lequel nous regarde, en levant le doigt, et plisse sa bouche en un mystérieux et enfantin sourire.
- ↑ Ambrosius Theodosius Macrobius hat (etwa 450 nach Christi) in seinen Saturnalium conviviorum libri septem (1868 von Eyssenhardt herausgegeben) auf die Autorität des Servius, des bekannten Kommentators von Virgil hin bewiesen, dass der Stoff zum zweiten Buche der Æneis einer epischen Dichtung des Peisandros entlehnt ist; dieser Dichter stammt aus Rameiros auf Rhodus, und lebte um 648 vor Christi oder etwas später.
- ↑ Es ist vollkommen richtig, dass der afrikanische Grammatiker Fabius Planciades Fulgentius, in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts [56] nach Christi, über zwei verloren gegangene Werke des Petronius gesprochen hat. Aber schon Lipsius hegte, um manches Rätselhaften der Sache willen, Zweifel. Bernhardy, in seiner bekannten Geschichte der lateinischen Litteratur, will nichts von Petronius wissen; er hält das Satyricon für ein Volksbuch, ohne bekannten Verfasser. Mit Sicherheit lässt sich nicht darüber entscheiden. Man sehe den Aufsatz von A. Wellauer in Jahn’s Archiv, X. Band, 1844, S. 194—229.
- ↑ Der thätige Leydener Dousa ist der erste niederländische Herausgeber des Petronius; 1743 gab Petrus Burman eine sehr vollständige Ausgabe seiner Werke; die am meisten gebrauchte Ausgabe unserer Zeit ist die von F. Bücheler aus dem Jahre 1862.
- ↑ Meunier, Les hommes d’aujourd’hui. J.-K. Huysmans. Vol. 6, No. 263.
- ↑ Über Loewe-Veimars gibt Maxime du Camp in seinen Souvenirs littéraires (1882), Tome I, p. 397-401, wichtige Mitteilungen. Es thut mir leid, Herrn Ary Prins (Nieuwe Gids I, 220, 1886) widersprechen zu müssen, wenn er sagt, Huysmans stehe ganz und gar nicht unter dem Einflusse der Romantik.
- ↑ Man vergleiche Georg Brandes, Die Litteratur des XIX. Jahrhunderts in ihren Hauplströmungen. I. Band, Emigrantenlitteratur, S. 59—75.