den Kopf geschüttelt. Huysmans war jedoch durchaus nicht der erste, der ihn in die französische Litteratur einführte. Schon im Jahre 1622 hat Charles Sorel mit seiner Histoire comique de Francion nach dem Vorbild eines Aleman und Quevedo eine Art Schelmenroman geschrieben, worin Gaudiebe und abenteuerliche Frauen vorkommen, die ihre Zuchtlosigkeiten mit beispielloser Unverschämtheit verkündigen. Scarron schlug 1650 in seinem Roman Comique keinen anderen Ton an; seine herumziehenden Komödianten sprechen und bewegen sich ganz im Geist der spanischen Picaros. Dasselbe gilt von zahlreichen untergeordneten Schriftstellern, wie du Lannel (Roman Satyrique, 1624), Mareschal (Chrysolite, 1627), François Tristan l’Hermite (Le page disgracié, 1643) und Antoine Furetière (Le Roman bourgeois, 1666).[1]
Im achtzehnten Jahrhundert ist Le Sage zu nennen, und es gab der Abbé Prévost eine histoire de fille, als er 1732 die Histoire de Manon Lescaut et du Chevalier des Grieux vollendete.
Mit diesem Buche fängt der psychologisch-erotische Roman an, den Restif de la Bretonne weiter pflegt in Le pied de Fanchette ou l’orfeline française, histoire intéressante et morale, 1769, und ihn auf Henri Beyle (Le Rouge et le Noir, 1831) verpflanzt; der in unseren Tagen vom jüngeren Dumas (La Dame aux camélias), von Georges Sand, von Flaubert (Éducation sentimentale), von den Gebrüdern de Goncourt und einem ganzen Heer mittelmässiger Nachfolger weiter bebaut wird.
Marthe von Huysmans hat am meisten Verwandtschaft mit Edmund de Goncourt’s La fille Élisa. L'histoire d'une fille erschien am 12. September 1876, La fille Élisa am 20. März 1877. Das geistige Band, das Huysmans und de Goncourt verknüpft, ist leicht nachzuweisen. Beide sind durch und durch Künstler, beide sind begeistert von Malerei, Bildhauerkunst, Kupferstechkunst.
Huysmans vergleicht Marthe mit Saskia, Rembrandt’s erster Frau; er lässt seine Marthe eine Kopie von Jordaens Dreikönigsfest bewundern, und sie gedankenvoll vor einem Stich nach Hogarth (das dritte Blatt von The Rakes Progress[2]) still stehen. Marthe, die Tochter aus der unglücklichen Ehe zweier elender Abenteurer, zeigt dabei so viel Geschmack, dass sie ihn nicht von ihren Eltern geerbt haben kann. Ähnliches kommt bei fast allen Personen des Buches vor.
Weder Marthe, noch Elisa, noch Nana sind die ersten unter den weissen Sklavinnen, die einem Romanschreiber zum Modell gedient haben.[3] Der jüngere Dumas hat seiner Marguerite Gauthier eine gewisse Berühmtheit zu verschaffen gewusst, die nach Verdi’s Traviata noch zunahm. Schon Manon Lescaut gehört der Kaste an, die der Niederländer Bredero „die grosse Gilde“ nannte.
Man darf Huysmans nicht wegen seines Stoffes über die Achseln ansehen. Ein spanischer Dominikanermönch, Andreas Perez, genannt Ubeda, schrieb 1605 einen Roman: La Picara Justina, der, wie La Tia fingada von Cervantes, die spanischen weissen Sklavinnen mit viel
- ↑ Man vergleiche H. Kœrting: Geschichte des französischen Romans im XVII. Jahrhundert, Bd. II: Der Realistische Roman.
- ↑ Marthe, zweite Auflage, S. 68—70.
- ↑ Ary Prins, der einen sehr guten Artikel über Huysmans schrieb (Nieuwe Gids, 1. Juni 1886) ist daher im Unrecht, wenn er sagt: In der Marthe hat Huysmans zuerst unter allen modernen Romanschreibern die gefallene Frau ohne alle Sentimentalität, in ihrem vollen Elend mit all ihren guten und schlechten Eigenschaften gezeichnet.
diverse: Zeitschrift für französische Sprache und Litteratur. Oppeln und Leipzig: , 1889, Seite 46. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:ZfSL_-_46.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)