Von jeher hat die Deutsche Poesie die Moral geliebet. Gewiß nicht nur, weil sie seit der christlichen Zeitrechnung von den Klöstern ausging, und meistens religiösen Inhalts war; sondern wohl auch des biedern Characters und der Rechtlichkeit der Nation wegen. Ein hoher Aufschwung, eine Zügellose Licenz lag weder in der Gemüthsart, noch in den Gewohnheiten, Sitten und Gesetzen der Deutschen; selbst das Klima begünstigte solche nicht, oder es foderte sie wenigstens nicht auf. Wenn man also den wärmern Nationen eine tiefere Empfindung zugeben, mithin auch manche raschere Ausschweifung zu gut halten muß: so haben wir uns dagegen den Weg der goldnen Mittelmäßigkeit gesichert, und dazu, wie alles, so auch unsre Versart eingerichtet. Für Fabel und Sprüche, die beiden leichtesten Einkleidungen der poetischen Moral, ist die kleine Versart in achtsylbigen Jamben, die den mittleren Jahrhunderten die gewöhnliche war, gleichsam
Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter (Fünfte Sammlung). Carl Wilhelm Ettinger, Gotha 1793, Seite 229. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zerstreute_Blaetter_V.djvu/245&oldid=- (Version vom 1.8.2018)