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Seite:Zeitschrift für Volkskunde I 345.png

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Edmund Veckenstedt (Hrsg.): Zeitschrift für Volkskunde 1. Jahrgang
Fr. Adler, Seeger, Eberth, Chr. Adler: Sagen aus der Provinz Sachsen VI

Sagen aus der Provinz Sachsen.
Mitgeteilt von Verschiedenen.
1. Der Charakter.

Wer einen Charakter hat, der kann damit alles erreichen, was er will, aber früher oder später trifft ihn dafür das Unglück, weshalb er gut thut, sich des Charakters bei zeiten zu entledigen. So diente einmal auf einem Gute in einem Dorfe bei Magdeburg ein Knecht, welcher einen Charakter hatte. Infolgedessen war kein Schloss vor ihm fest, und wenn er mitten in der Nacht den Jungen auf den Boden schickte, dass ihm derselbe Hafer für die Pferde stehlen sollte, so fand der Junge das Schloss offen, welches doch jeden Abend von dem Verwalter fest zugeschlossen war. Davon kam es denn auch, dass die Pferde des Knechtes stets die bestgenährten im ganzen Stalle waren und auch am besten zogen, so dass jeder andere Knecht auch gern einen Charakter gehabt hätte.

Eines Tages waren nun einmal die Knechte nach Holz gefahren. Der Abend war schon hereingebrochen, denn der Weg war weit, und noch waren sie eine ziemliche Strecke von ihrem Dorfe entfernt. Wie das so bei dem Holzfahren zuzugehen pflegt, so war es auch hier geschehen, die Knechte hatten sich angetrunken. Wenn man aber einen zu viel getrunken hat, dann hat man ganz andern Mut als sonst und spricht von Dingen, über welche man sonst den Mund zu halten pflegt. So ging es auch mit unserem Knechte, welcher den Charakter hatte. Ihm ging der Mund über und er wusste gar nicht genug zu erzählen, was er alles könnte. Indem er noch so redete, kam plötzlich ein heftiger Windsturm dahergebraust, obschon es sonst ganz ruhige Luft war, und fasste den Knecht so, dass er hinstürzte und gerade vor das Rad fiel. Die andern Knechte sprangen zwar gleich zu, einige hielten die Pferde an, die andern stemmten sich gegen den Wagen, so dass es ihnen auch glücklich gelang, den Knecht davor zu bewahren, dass das Rad über ihn weg ging; aber er hatte sich doch bei dem Fall schweren Schaden gethan und musste längere Zeit daran leiden.

Nun merkten die Knechte alle, dass es nicht gut sei, wenn jemand einen Charakter hätte, deshalb verlangte auch niemand mehr danach. Der Knecht, welcher so zu Schaden gekommen war, hätte sich jetzt gern des Charakters entledigt, aber wem er denselben auch anbot, es nahm ihn niemand.

Der Knecht ist denn auch später wieder verunglückt und hat dabei seinen Tod gefunden.

Fr. Adler.     


Empfohlene Zitierweise:
Edmund Veckenstedt (Hrsg.): Zeitschrift für Volkskunde 1. Jahrgang. Alfred Dörffel, Leipzig 1888/89, Seite 345. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Volkskunde_I_345.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)