Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 1 | |
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sondern als Lebensatem und Passion. Die Welt ist auch in den Extremen noch ganz, noch gesund, noch Natur. Und was ihn diesen Extremen zutreibt, das ist nicht Neugierr oder apologetischer Eifer, sondern dialektische Leidenschaft.
Gides Natur sei nicht reich, hat man gesagt. Diese Bemerkung trifft nicht allein Zu; sie ist entscheidend. Auch verrät Gides eigene Haltung einiges Bewusstsein von diesem Umstand.
"Im Ursprung jeder grossen sittlichen Reform, sagter in seinem "Dostojewski", begegnet uns immer ein kleines physiologisches Geheimnis, ein Ungenügen des Fleischs, eine Unruhe, eine Anomalie... Das Unbehagen, unter dem der Reformator leidet, ist das eines Mangels an innerem Gleichgewicht. Die moralischen Gegebenheiten, Positionen, Werte liegen für ihn in innerem Widerspruch und er bemüht sich sie zur Deckung zu bringen; was er verlangt, das ist ein neues Gkeichgewicht: sein Werk ist nichts als ein Versuch, der Logik und der Vernunft nach die Verwirrung, die er in seinem Innern fühlt, durch eine Neuordnung zu ersetzen." "Eine Handlung, in weilcher ich nicht alle Widersprüche, die in mir wohnen, wieder erkenne, erklärte er an anderer Stelle, verrät mich."
Unzählige Mal hat man die Haltung, die aus diesen und verwandten Sätzen spricht, verdächtigt. Der Kritiker Massis nennt Gide dämonisch. Doch aufschlüssreieher dürfte sein, dass Gide nie jene andere Dämonie, die man dem Künstler gerade von bürgerlicher Seite so gern zubilligt, beansprucht hat: die Freiheit des Genies. Wie Valéry seine gesamte Produktion durchaus in seinem intellektuellen Leben integriert, so Gide die seinige in dem moralischen. Dem dankt er seine pädagogische Bedeutung. Seit Barrès ist er der grösste Führer, welchen die Intelligenz in Frankreich gefunden hat.
"Es ist vielleicht nicht richtig, schreibt Malraux, André Gide als einen Philosophen anzusehen. Ich glaube, er ist etwas ganz anderes: ein Gewissensberatter. Das ist ein höchst bedeutender und steltsamer Beruf... Maurice Barrès hat sich ihm lange gewidmet; Gide auch. Es ist bestimmt nichts Geringes, derjenige zu sein, der die Geisteshaltung einer Epoche bestimmt. Während aber Barrès nur Ratschläge geben konnte, hat Gide auf jenen Zwiespalt zwischen unseren Wünschen und unserer Würde, unseren Strebungen und unseren Willen ihrer Herr zu werden oder sie zu verwerten, uns hingewiesen... Der Hälfte derer, die man "die Jugend" nennt, hat er ihr intellektuelles Gewissen geweckt."
Die Wirkung, von der hier die Rede ist, lässt sich aufs engste mit einer ganz bestimmten Figur verbinden, welche in dem Romane "Les caves du Vatican" auftritt. Das Werk erschien am Vorabend des Krieges, als in der Jugend sich zum ersten Male
Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 1. Librairie Felix Alcan, Paris 1934, Seite 71. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Sozialforschung_-_Jahrgang_3_-_Heft_1.pdf/73&oldid=- (Version vom 18.8.2022)