innerlichsten Spekulation heraustrat in die Wirklichkeit: krampfhaft an seinem rauschartigen geistigen Erlebnis festhaltend, geriet er da sofort in dröhnenden Konflikt mit der Realität der Tatsachen. Daher seine verschrobene Wertung lebendiger Fragen, daher die grotesken Resultate, zu denen er in seinem Hauptproblem »Weib« mit seinem Hauptwerk »Geschlecht und Charakter« gelangt ist. Und daher auch kann man ihn wohl nicht als Genie, sondern nur als einen Menschen von eminent genialischer Veranlagung bezeichnen. Denn das Genie bringt etwas hervor, das an sich eine bleibende Wahrheit, einen neuen Wert für die Menschheit repräsentiert! – Aber gerade die Resultate, zu denen Weininger gelangte, tragen den Todeskeim in sich, während nur die Art, wie er zu ihnen gelangte, ein hochinteressantes, aufregendes, geistiges Schauspiel gewährt.
Ein anderer Einwurf, der mir von einem seiner begeistertsten Anhänger gemacht wurde, lautet merkwürdigerweise dahin, es sei überhaupt kleinlich, gerade Weiningers Verkehrtheiten und Verrennungen in bezug auf das Problem »Weib«, die nicht ernster zu nehmen seien, als die Delirien eines Fieberkranken (!), zum Stoff einer Schrift zu machen. Wie? Gerade diese Ausführungen sollen nicht der Kritik unterzogen werden?! Ja, aber warum denn nicht? Daß sie »ohnehin kein Mensch ernst nehme«, ist sicherlich nicht anzunehmen bei einem Werk, das eine so weitgehende Beachtung fand, das jeden Denkenden verführerisch anzieht (wenn es ihn nachher auch wieder umso ehrlicher abstößt). Wären diese Anschauungen und Resultate nur mit unterlaufen in einem Hauptwerk anderen Inhalts, anderer Tendenz, dann könnte man sie vielleicht ignorieren; da sie aber Selbstzweck des ganzen Werkes sind, der ganze Bau nur um ihretwillen aufgetürmt wurde, alles was darin ist, nur deshalb vorgeführt wird, um die Beweise zu erbringen für das, was der Autor über das »Weib« zu sagen hat –
Grete Meisel-Heß: Weiberhaß und Weiberverachtung. Die Wage, Wien 1904, Seite V. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Weiberhass_und_Weiberverachtung.djvu/5&oldid=- (Version vom 1.8.2018)