Ausgehend von der falschen Voraussetzung, der ganze theoretische Streit in der Frauenfrage drehe sich darum, »wer geistig höher veranlagt sei, die Männer oder die Frauen«, eine Voraussetzung, die umso naiver und lächerlicher ist, als es ja darauf gar nicht ankommt, um den Wert einer Gattung zu bestimmen und eine von solchen Gesichtspunkten ausgehende Bewertung einen erbärmlich kleinlichen Standpunkt verraten würde, gelangt Weininger zum Problem der Begabung und Genialität überhaupt. Dieser Abschnitt seines Buches scheint mir die anderen Kapitel wie eine Warte zu überragen, trotzdem auch hier unvermutete, vehemente Sprünge in die unsinnigsten Schlußfolgerungen die sinnigsten Auseinandersetzungen abreißen und verzerren und den Eindruck wilder Purzelbäume hervorrufen, die ein ruhiges, schönes Wandeln plötzlich unterbrechen. Glänzend und plastisch, von unzweideutiger Prägnanz ist der Stil, eine wunderbare Klarheit herrscht vor, solange die fixe Idee nicht mitspricht. Abgesehen von einigen Ausfällen von peinlicher Banalität, die eine interessant ansetzende Gedankenreihe manchmal grob unterbrechen, – wie z. B. die nicht sehr originelle Mitteilung, daß »ganz große« Männer nicht dem jungen Fuchse auf der Mensur »gleichen«, noch dem jungen Mädchen, das sich über die neue Toilette nur freut, weil ihre Freundinnen sich darüber ärgern, – finden
Grete Meisel-Heß: Weiberhaß und Weiberverachtung. Die Wage, Wien 1904, Seite 31. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Weiberhass_und_Weiberverachtung.djvu/37&oldid=- (Version vom 1.8.2018)