„Das wird einem immer gesagt, wenn man jemand mit der Wahrheit an den Leib rückt,“ gab die liebenswürdige Stiftsdame zurück. „Gesteh’s nur ein, du warst neugierig. Du bist Spiritistin und suchst Belege für deine Theorieen, sagen wir für deine Wünsche. Denn im Grunde haben die Spiritisten keine stichhaltigen Theorieen, sie haben nur sehr, sehr unvernünftige Wünsche. Du hast, wer weiß was erwartet und bist jetzt enttäuscht. Welcher Art diese Zustände deiner Nichte sind, ob hysterisch oder epileptisch oder noch etwas andres, das weiß ich nicht. Aber das eine weiß ich, daß alle damit verbundenen Übernatürlichkeiten – die Ahnungen und Weissagungen – Schwindel sind. Es gibt keine Trennungen von Seele und Körper bei lebendigem Leib, das glaub’ ich nicht und werd’s nie glauben!“ Sie grunzte noch einmal energisch und schob ihr breites, stoppliges Kinn in die Höhe, mit einer Miene, als ob sie hätte sagen wollen: „Ich möcht’ doch wissen, ob jemand den Mut hat, mir auf meine Weisheit etwas zu entgegnen!“
Die Gräfin Zell lachte. „Du magst glauben, was du willst, jedem Tierchen sein Pläsierchen,“ sagte sie, „jedenfalls ist die Gina ein recht merkwürdiges Geschöpf. Das Sonderbarste an ihr ist ihre Leidenschaft für Leichen und Kirchhöfe. Neulich ist unten im Städtchen eine Müllerstochter angeblich an unglücklicher Liebe verschieden. Gina war nicht zu halten. Sie
Ossip Schubin: Vollmondzauber. Stuttgart: J. Engelhorn, 1899, Band 1, Seite 113. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Vollmondzauber.djvu/114&oldid=- (Version vom 1.8.2018)