fangen an, mir herzlich zuwider zu werden,“ fuhr er den Vetter an. „Jeder Mensch, der die Verhältnisse kennt, muß Mitleid haben mit der armen Frau. Es ist wirklich nur einfach anständig, zu trachten, ihr Los ein wenig zu erleichtern. Sie hat eine ganz gute Erziehung genossen, – sie ist eine Polin und stammt von vermögenden Eltern, die plötzlich verarmt sind. Später bildete sie sich zur Pianistin aus, absolvierte das Konservatorium glänzend. Zwei Tage, ehe sie das erste Mal öffentlich spielen sollte, fühlte sie einen rasenden Schmerz in der rechten Hand. Es stellte sich heraus, daß sie sich den vierten Finger ‚verspielt‘ hatte – daß sie allenfalls noch zu ihrem Vergnügen musizieren, aber keineswegs mehr an eine künstlerische Carriere denken konnte. Die Not starrte ihr ins Gesicht, ihre sterbende Mutter redete ihr zu – und so heiratete sie den Swoboda. Mir ist einfach leid um sie – verstehst denn du das nicht? Sie ist gar so ein armer Hascher!“
„Hm,“ murmelte Bärenburg gedehnt, „und du glaubst vielleicht, daß deine Freundschaft sie reich machen wird?“
Ossip Schubin: Vollmondzauber. Stuttgart: J. Engelhorn, 1899, Band 1, Seite 46. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Vollmondzauber.djvu/047&oldid=- (Version vom 1.8.2018)