Der Herr war wieder allein.
„Meine erste Mahlzeit in der Aufmachung von einst!“ dachte er und nahm Platz. „Ulla Kresten, ich danke Dir für Dein taktvolles Fernbleiben! In Deiner Gegenwart wäre ich vielleicht zu sehr Gesellschaftsmensch gewesen und hätte mich nicht satt gegessen!“
„Sie hat Dich erkannt,“ sagte er sich weiter, als er den Kaviar kostete. „Ganz bestimmt hat sie Dich erkannt. Das sind nun acht Jahre und sieben Monate her – ja, genau so lange ist’s her! Wie aber kann Ulla Kresten, einst Gesellschaftsdame und Vorleserin der morphiumsüchtigen Baronin Salbing, jetzt zu solchem Wohlstand gelangt sein, daß sie mir im eigenen Heim Kaviar, Hummersalat, kaltes Geflügel und Gänseleberpastete vorzusetzen vermag?!“
Er goß sich ein Glas Rotwein ein, hielt das Glas unter die Nase, trank langsam, mit Andacht, – trank noch ein Glas. Seine Wangen bekamen Farbe; sein Hirn arbeitete schneller. Ein stilles Wohlbehagen erfüllte ihn.
„Sie muß doch damals verurteilt worden sein,“ überlegte er. „Sie ließ mich bitten, ihre Verteidigung zu übernehmen, nachdem sie verhaftet worden war. Ich lehnte ab. Ich hatte ja für nichts mehr Interesse – für nichts!“
Seine Hand umkrampfte plötzlich das Tischmesser.
Der Haß erwachte jäh wieder wie ein auflohendes Flammenmeer, der Haß gegen alle, die mit schuld daran waren, daß er acht endlose Jahre hinter Kerkermauern zugebracht hatte.
Walther Kabel: Thomas Bruck, der Sträfling. Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin 1923, Seite 19. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Thomas_Bruck,_der_Str%C3%A4fling.pdf/20&oldid=- (Version vom 1.8.2018)