Zum Inhalt springen

Seite:Taras Schewtschenko. Ein ukrainisches Dichterleben. Von Alfred Jensen (1916).djvu/66

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Literatur war er ziemlich vertraut. Als er das Lobgedicht auf Jan Hus zu schreiben beabsichtigte, studierte er nach besten Kräften die Geschichte der hussitischen Revolution und im vorletzten Jahre seines Lebens übersetzte er das schöne Klagelied der Jaroslawna im Igorliede. Von seiner Vertrautheit mit der allgemeinen Kunstgeschichte zeugt vorteilhaft der autobiographische Roman „Der Künstler“. Das beste Zeugnis aber für seine allgemeine, und zwar mehr als durchschnittliche Bildung liefert sein Tagebuch, wo er nicht selten hochwichtige Probleme berührt. Außer der russischen Sprache beherrschte er geläufig die polnische; auch die französische war ihm nicht ganz fremd.

In der frostigen Stadt an der Newa war Schewtschenko nicht zu Hause. Der Ukraine galt sein Sehnen. Er sprach gern von der Heimat; von den Steppen und ihren hohen Gräbern, den Hütten in den Kirschgärten und den alten Weiden; von den steilen Ufern des Dnipró und den Klöstern: „Dort will ich leben und dort sterben.“ Dahin zu kommen war jedoch nicht leicht, denn er stand noch immer in Verdacht und seine Gönner hatten nicht wenig Mühe, ihm einen Reisepaß zu erwirken, damit er „sich pflegen könne und Gelegenheit zum Malen nach der Natur habe“. Anfangs Juni 1859 wurde die Reise angetreten und man kann sich die wehmütige Freude vorstellen, mit welcher er den heißgeliebten Dnipró und sein Heimatsdorf Kyryliwka wiedersah. Er traf seine Geschwister und Verwandten wieder an, aber die Freude des Wiedersehens war doch sehr getrübt: seine Angehörigen waren noch immer Leibeigne und die Lage der ukrainischen Bevölkerung war noch immer die gleiche. Aus dieser Periode seines dichterischen Schaffens sind uns nur sechs Gedichte bekannt [darunter das schöne schon erwähnte[1]) Gedicht an die Schwester Iryna]; sämtliche atmen stille Resignation und Wehmut.

Und der Fluch des ehemaligen Verbannten lastete noch immer auf Schewtschenko. Infolge Denunziation seitens einiger polnischer Herren wurde er wiederum verhaftet


  1. Siehe S.10.