keine tendenziöse Rhetorik, aber gerade in der Schlichtheit der Darstellung liegt die erschütternde Wirkung dieser dunkeln Nachtbilder.“
Kateryna war trotz der Warnung ihrer Eltern in einen Moskowiten verliebt, der gegen die Türken ziehn mußte. Sie wartete vergeblich auf ihn, gebar ein Kind und wurde als „pokrytka“ verhöhnt. Die Mutter schilt sie aus und rät ihr, nach Moskau zu gehn, um ihren Schwiegervater ausfindig zu machen. „Wer aber wird auf meinem Grabhügel die erste Kalyna pflanzen und wer ohne dich für meine sündige Seele beten?“ Kateryna bittet warm um Verzeihung und verläßt das Elternhaus, eine Handvoll Erde von der Wurzel des Weichselbaums mitnehmend. „Wie eine Pappel stand sie auf dem Felde an der Landstraße. Wie Tau vor dem Sonnenaufgang flossen Tränen aus ihren Augen.“ Sie küßt das nichts ahnende, unschuldige Kind und macht sich auf den Weg von Kiew nach Moskau, den die Tschumaken wandern. In Winterkälte und Schneesturm, angetan mit einem Bauernrock, den Sack auf dem Rücken, den Stock in der einen Hand und das Knäblein an der andern, so schleppt sie sich von Dorf zu Dorf, bis sie dem Geliebten zufälligerweise begegnet. Sie will sich in seine Arme werfen; der vornehme Reiter aber stellt sich, als erkenne er sie nicht und jagt sie herzlos fort. Ihr Sinn wird allmählich verwirrt; sie fleht den Reitenden an, er möchte wenigstens das Kind in seine Obhut nehmen, wenn sich schon niemand um sie selbst kümmere. Schließlich ertränkt sie sich in einem Teich. „Kateryna mit den schwarzen Brauen fand endlich, was sie suchte; der Wind wehte über den Teich und fegte jede Spur von ihr hinweg.“ In dem Epilog wandert ein Kobsar nach Kiew, von einem Knaben begleitet – es ist der verwaiste Sohn der unglücklichen Kateryna. Da fährt ein „Berlinerwagen“ vorüber, mit sechs Pferden bespannt und mit einem feinen Herrn und seiner Gemahlin als Insassen. Der Herr wirft ein Geldstück den Bettlern zu, merkt aber sofort die auffallende Ähnlichkeit des Knaben mit sich selbst und beschleunigt beschämt die Fahrt …
Alfred Anton Jensen: Taras Schewtschenko. Ein ukrainisches Dichterleben. Adolf Holzhausen, Wien 1916, Seite 148. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Taras_Schewtschenko._Ein_ukrainisches_Dichterleben._Von_Alfred_Jensen_(1916).djvu/176&oldid=- (Version vom 7.10.2018)