Erst im Jahre 1844 bekam die Dichtung Schewtschenkos ein direkt politisches Gepräge; richtete sie früher, in der poetischen Darstellung des absterbenden Kosakentums, ihre Spitze gegen die Polen und die Jesuiten, so zielte sie nunmehr nach jenem Staate, der sowohl Polen wie die Ukraine verschlungen hatte, nach dem russischen Zarentum. Das beweist besonders das phantastische Gedicht „Der Traum“, das erst 1865 gedruckt wurde,[1] aber – immerhin teilweise – schon um die Mitte von 1840 durch Abschriften bekannt gewesen sein dürfte. Ja es ist höchst wahrscheinlich, daß gerade dieses Gedicht, sowie die im folgenden Jahre verfaßten, „Die große Gruft“ und „Kaukasus“, den ukrainischen Dichter allerhöchsten Ortes so verdächtig machten und mißliebig, daß er unmenschlich streng bestraft wurde, wenngleich er keiner revolutionären Umtriebe überführt werden konnte.
„Der Traum“ (Sson) ist eine bizarre Satire, eine von Dante und Mickiewicz beeinflußte Schilderung einer phantastischen Reise durch die irdische Hölle – eine im Traum gemachte Fahrt von der Ukraine nach Petersburg. Der Dichter glaubt über die Erde emporgehoben zu werden und verabschiedet sich von der Welt. „Meine grimmigen Qualen will ich in die Wolken hüllen.“ Er schwebt über die Ukraine, „die unglückliche
- ↑ Politische Gedichte Schewtschenkos aus den 1840er Jahren, darunter auch „Der Traum“, wurden zwar in einem Heft der Leipziger „Russkaja Biblioteka“ 1859 neben den in Rußland verbotenen Gedichten Puschkins veröffentlicht, aber in so verstümmelter Form, daß selbst die Herausgeber nicht ihre Verbreitung wagten.
Alfred Anton Jensen: Taras Schewtschenko. Ein ukrainisches Dichterleben. Adolf Holzhausen, Wien 1916, Seite 117. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Taras_Schewtschenko._Ein_ukrainisches_Dichterleben._Von_Alfred_Jensen_(1916).djvu/143&oldid=- (Version vom 7.10.2018)