‚Keine Antwort weiß ich, Schwester‘,
so der Blumenkönig
sprach und neigt’ das rosenfarbne,
schöne Haupt ein wenig,
es der Lilie weißem, zartem
Angesicht vermählend.
Über beiden schwebt die Gottheit,
sie zu Wundern wählend
dieser sündenreichen Erde …
Und die Lilie weinte
tauige Tränen und erzählte:
‚Lange schon vereinte
Liebe uns, doch klagt’ ich niemals,
wie ich einst gelitten.
Meine Mutter grämte stets sich
und die Tränen glitten
ihr vom Aug’ bei meinem Anblick.
Nie konnt’ ich erfahren,
wer ihr Gram bereitet hatte,
war zu jung an Jahren.
Und indeß ich nur nach Spielen,
nach Vergnügen suchte,
flucht’ sie unserm Herrn und welkte,
welkte hin und fluchte.
Und sie starb. – Als dies geschehn war,
ließ der Herr mich bringen
auf sein Schloß, wo mir der Kindheit
Tage schnell vergingen.
Daß ich seiner Liebe Kind war,
wie sollt’ ich das wissen?
Eines Tags – der Gutsherr weilte
in der Fremde – rissen
meuternd aus dem weißen Schloß mich
seine eignen Leute,
steckten es in Brand und gaben
mich dem Tod zur Beute,
denn sie raubten mir die Zöpfe,
schnitten weg die schönen,
deckten dann den kahlen Scheitel,
um mich zu verhöhnen,
mir mit Lumpen. Selbst die Juden
durften auf mich speien.
Also ging es mir, mein Bruder,
in der Welt, der freien!
Alfred Anton Jensen: Taras Schewtschenko. Ein ukrainisches Dichterleben. Adolf Holzhausen, Wien 1916, Seite 95. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Taras_Schewtschenko._Ein_ukrainisches_Dichterleben._Von_Alfred_Jensen_(1916).djvu/121&oldid=- (Version vom 7.10.2018)