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Seite:SeebergAusAltenZeiten.pdf/22

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Paul Seeberg: Aus alten Zeiten : Lebensbilder aus Kurland

treffen; aber, — wie das bei päpstlichen Naturen häufig der Fall ist, daß sie auch über ihren Leisten hinaus urteilen, oder vielmehr die ganze Welt zu ihrem Leisten rechnen, so war es auch hier. Z. B. in Betreff meines Lehrers, den der Vater, um sich unsre Vorbereitung für die Universität zu erleichtern, für die letzten zwei Jahre meines Verweilens im Elternhause engagiert hatte. Nach Großmutters An­sichten mußte ein studierter Mann sich grad und nobel halten und viel „Gegenwärtiges“ (d. h. Geistesgegenwart, Lebhaftigkeit, Repräsentation) an sich haben. Da nun der gelehrte Dr. v. d. S. von letzterer wenig besaß und, was feine Haltung anlangt, recht gebeugt einherging, — Großmutter nannte das „ducknackig“, so war sie mit ihrem Urteil gleich im Reinen. „Der hat gar nicht studiert,“ hieß es; „ist ein abgelassener Kaufgesell.“ Wir machten nun wohl darauf aufmerksam, daß er eine große silberne Brille trage, Doktor der Philosophie sei, das Zachariäsche geographische Werk herausgegeben habe und jetzt eben damit beschäftigt sei, Aristoteles’ Poetik mit lateinischer, deutscher und englischer Uebersetzung und gelehrtem Kommentar herauszugeben, und uns schon jetzt zum Vorschmack künftiger Freuden mit dieser Schüssel bis zur Ohnmacht füttere, — das einzige, was wir erreichen konnten, war, daß sie zugab: „so mag er studiert haben; aber ausstudiert hat er nicht, dabei bleib ich. Hat ja gar kein Gegenwärtiges.“ — Griechisch und Latein ließ sie übrigens in der Erziehung gelten, hatte sogar einen gewissen Respekt davor; denn auch ihr geliebter Friedrich hatte diese Sprachen treiben müssen, um auf die Universität gehen zu können. Was aber die Geometrie anlangt, war sie anderer Meinung, wie wir gleich sehen werden. Um seiner Vorbereitung besser obliegen zu können, hatte sich eines Abends einer der Knaben in Großmutters Zimmer zurückgezogen. Sei es nun,

Empfohlene Zitierweise:
Paul Seeberg: Aus alten Zeiten : Lebensbilder aus Kurland. J. F. Steinkopf, Stuttgart 1885, Seite 24. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:SeebergAusAltenZeiten.pdf/22&oldid=- (Version vom 12.9.2022)