Basilius von Ramdohr: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredelung und Verschönerung/Dritten Theils zweyte Abtheilung | |
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Absicht bey deiner Liebe zum Grunde liegt. Aber es ziemt sich demungeachtet nicht für den hohen Rang, den du unter den Lehrern einnimmst, dich verdächtig zu machen, und der Leidenschaft roher Menschen zu huldigen. O Freund! antwortete dieser, oft habe ich mir diese Ermahnungen selbst gegeben, aber ich habe gefunden, daß es leichter sey, jede Qual um der Geliebten willen zu erdulden, als das Auge ganz von ihrer Betrachtung abzuwenden.
Sadi liebt seine Geliebte um ihrer schönen davidischen Stimme und ihrer josephischen Schönheit willen. Aber es mißfällt ihm etwas an ihren Sitten, und er verstößt sie. Sie geht von ihm mit den stolzen Worten: Wenn gleich der Abendstern beym Glanze der Sonne nicht sichtbar ist, so wird dadurch der Werth dieses Glanzes nicht vermindert. Bald empfindet Sadi die Wahrheit dieser Worte durch die Entbehrung ihres Umgangs. „Kehre wieder, ruft er, und tödte mich! Es ist besser, in deiner Gegenwart zu sterben, als fern von dir ein elendes Leben hinzuziehen.“ Sie kehret wieder: aber Stimme und Schönheit sind verloren, und Sadi flieht sie: er liebt nur die Blüthe der Jugend.
Man legte einem Religiosen folgende Frage vor: Wenn Jemand mit dem schönsten Mädchen allein in einem Zimmer sitzt, die Thüren sind verschlossen, die Wächter schlafen, die Sinne sind gereitzt, und die Lüsternheit erwacht; kurz! wenn nach dem Ausdruck des Arabers die Dattel reift, und der Gärtner das Abbrechen nicht wehrt; Wie dann? Wird das fromme Gefühl der Pflicht den Sofi vor dem Falle bewahren können? Die Antwort ist: wenn ihn das Mädchen
Basilius von Ramdohr: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredelung und Verschönerung/Dritten Theils zweyte Abtheilung. Georg Joachim Göschen, Leipzig 1798, Seite 27. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ramdohr-Venus_Urania-Band_3.2.djvu/27&oldid=- (Version vom 1.8.2018)