Basilius von Ramdohr: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredelung und Verschönerung/Dritten Theils erste Abtheilung | |
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Menge von ihnen ist verloren gegangen, und wer steht uns für dasjenige ein, was diese enthielten? So viel zeigt sich allenthalben, und besonders aus dem Beyspiele der Klytemnestra, daß die Zeitgenossen des Aeschylus einen hohen Werth auf eheliche Treue und zärtliche Anhänglichkeit des Weibes an dem Manne legten. Es scheint aber zugleich, nach eben diesen Beyspielen zu urtheilen, daß ein Mangel an wechselseitiger Zärtlichkeit von Seiten des Gatten sie nicht beleidigt habe.
Sophokles nutzt den Edelsinn der Weiber und ihre Liebe zum Manne bereits mehr wie Aeschylus, um das Interesse der Zuschauer zu erwecken. In den Trachinerinnen erscheint Dejanira als ein höchst liebendes und nur durch die Liebe fehlendes Weib.
Wie zärtlich drückt sie gleich anfangs ihre Sorgen für den abwesenden, immer gefahrvollen Unternehmungen ausgesetzten Gatten aus? Und dennoch sendet sie ihren Sohn nach ihm aus, ihn aufzusuchen, und die Gefahr mit ihm zu theilen. „Wir leben“, sagt sie, „wenn dein Vater lebt, und sterben wenn er stirbt!“ Welche Freude, als sie endlich die erste Bothschaft erhält, daß Herkules als Sieger heimkehre! Sie bejammert das traurige Loos der gefangenen Weiber, die er ihr zusendet. Edel und zugleich weiblich zeigt sich
Basilius von Ramdohr: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredelung und Verschönerung/Dritten Theils erste Abtheilung. Georg Joachim Göschen, Leipzig 1798, Seite 66. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ramdohr-Venus_Urania-Band_3.1.djvu/66&oldid=- (Version vom 1.8.2018)