Basilius von Ramdohr: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredelung und Verschönerung/Zweyter Theil | |
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Thor! verkenne nicht die einfachen und süßen Gesetze der Natur! Rotte sie nicht aus, jene Wärterinnen deines sinnlichen Vergnügens, Schamhaftigkeit und Achtung für deine sittliche Würde! Erschöpfe nicht durch Unmäßigkeit seine Quellen! Aber vor allen nimm und gieb nichts als Liebe!
Die letzte Sprosse in der Leiter von Freuden, welche die Körper der gepaarten Person ihren Seelen zuführen, ist der Genuß, den die Beschauung der physischen Schönheit, so wie die Ahndung einer schönen Seele aus schönen Formen des Körpers und seiner Beywerke gewährt!
Ja, es giebt Augenblicke, in denen wir die Wohlgestalt des ganzen Körpers, gleich einem todten Kunstwerke, mit Wonne ohne Bestrebung und ohne Begierde, selbst während des leidenschaftlichen Verhältnisses beschauen mögen. Jene Bestimmtheit der Züge, jener leichte Zusammenhang des Umrisses, jenes Wohlverhältniß der Hauptabtheilungen des Körpers unter einander, jenes Gleichgewicht der Gliedmaßen gegen einander, jene Harmonie der Farbe und des Helldunkeln, jene Einstimmung des Ganzen mit dem Ur- oder Regelbilde seines Standes, Alters und Geschlechts, jene Angemessenheit desselben zu den Körpern, die mit ihm zusammenstehen, können, wenn Zeichnung, Farbe und Helldunkles dem Auge und dem
Basilius von Ramdohr: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredelung und Verschönerung/Zweyter Theil. Georg Joachim Göschen, Leipzig 1798, Seite 296. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ramdohr-Venus_Urania-Band_2.djvu/296&oldid=- (Version vom 1.8.2018)