uns Form und Dauer. Diese Wandlung zur Gestalt vollzieht sich in der Wissenschaft und in der Sprache, in der Kunst und im Mythos in verschiedener Weise und nach verschiedenen Bildungsprinzipien: aber sie alle stimmen darin überein, daß dasjenige, was schließlich als Produkt ihres Tuns vor uns hintritt, in keinem Zuge mehr dem bloßen Material gleicht, von dem sie anfänglich ausgegangen waren. So unterscheidet sich in der Grundfunktion der Zeichengebung überhaupt und in ihren verschiedenen Richtungen erst wahrhaft das geistige vom sinnlichen Bewußtsein. Hier erst tritt an die Stelle der passiven Hingegebenheit an irgendein äußeres Dasein eine selbständige Prägung, die wir ihm geben, und durch die es für uns in verschiedene Wirklichkeitsbereiche und Wirklichkeitsformen auseinandertritt. Der Mythos und die Kunst, die Sprache und die Wissenschaft sind in diesem Sinne Prägungen zum Sein: sie sind nicht einfache Abbilder einer vorhandenen Wirklichkeit, sondern sie stellen die großen Richtlinien der geistigen Bewegung, des ideellen Prozesses dar, in dem sich für uns das Wirkliche als Eines und Vieles konstituiert, – als eine Mannigfaltigkeit von Gestaltungen, die doch zuletzt durch eine Einheit der Bedeutung zusammengehalten werden.
Blickt man auf dieses Ziel voraus, so wird damit auch die besondere Bestimmung der verschiedenen Zeichensysteme und der Gebrauch, den das Bewußtsein von ihnen macht, erst verständlich. Wäre das Zeichen nichts anderes als die Wiederholung eines bestimmten, in sich fertigen Einzelinhalts der Anschauung oder Vorstellung, so wäre weder abzusehen, was mit einer solchen schlichten Kopie des Vorhandenen geleistet werden, noch wie sie in wirklicher Strenge erreicht werden sollte. Denn es liegt auf der Hand, daß die Nachahmung an das Original niemals heranreichen, es für die geistige Betrachtung niemals ersetzen könnte. Unter der Voraussetzung einer derartigen Norm wird man daher notwendig zu einer prinzipiellen Skepsis gegen den Wert des Zeichens überhaupt geführt. Wird es etwa als die eigentliche und wesentliche Aufgabe der Sprache betrachtet, jene Wirklichkeit, die wir in den einzelnen Empfindungen und Anschauungen bereits fertig vor uns liegen haben, nur in dem fremden Medium des Sprachlauts nochmals zum Ausdruck zu bringen – so zeigt sich sofort, wie unendlich weit alles Sprechen hinter dieser Aufgabe zurückbleiben muß. Der unbegrenzten Fülle und Mannigfaltigkeit der anschaulichen Wirklichkeit gegenüber müssen alle sprachlichen Symbole als leer, ihrer individuellen Bestimmtheit gegenüber müssen sie als abstrakt und vag erscheinen. In dem Augenblick, in dem die Sprache mit der Empfindung oder Anschauung in dieser Hinsicht in Wettstreit zu
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 43. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/59&oldid=- (Version vom 20.8.2021)