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Seite:Philosophie der symbolischen Formen erster Teil.djvu/308

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Grund- und Urbedeutung der letzteren Wurzel ist – im Gebrauch von φύω ‚ich zeuge‘, von φύομαι ‚ich wachse‘ u. s. f. – im Griechischen noch deutlich spürbar. Im Germanischen tritt neben die Wurzel bheu, die in die Bildung des Präsensstammes (ich bin, du bist etc.) eindringt, die Hilfswurzel ues (got. wisan, ich war etc.), die ursprünglich den Sinn des Wohnens und Verweilens, des Dauerns und „Währens“ (ahd. wërên) besitzt. Wieder anders hat sich die Entwicklung im Romanischen gestaltet, in welchem der Ausdruck des Seinsbegriffs an die anschauliche Bedeutung des Stehens geknüpft erscheint[1]. Und wie sich hier der Ausdruck des Seins an die Vorstellung der örtlichen Beharrung und der Ruhe anlehnt, so lehnt sich umgekehrt der Ausdruck des Werdens an die Vorstellung der Bewegung an: die Anschauung des Werdens wird aus der des Drehens, sich Wendens entwickelt[2]. Auch aus der konkreten Bedeutung des Kommens und Gehens kann sich die allgemeine des Werdens entfalten[3]. In alledem zeigt sich, daß auch diejenigen Sprachen, in denen der Sinn für die logische Eigenart der Kopula scharf entwickelt ist, sich in der Bezeichnung derselben zunächst nur wenig von anderen unterscheiden, denen dieser Sinn entweder ganz abgeht, oder die es zum mindesten zu einem umfassenden und allgemeingültigen Ausdruck des Verbum substantivum nicht gebracht haben. Auch hier kann die geistige Form des Beziehungsausdrucks sich immer nur in einer bestimmten materialen Umhüllung darstellen, die aber schließlich so weit durchdrungen und bewältigt wird, daß sie nicht mehr als bloße Schranke, sondern als der sinnliche Träger eines rein ideellen Bedeutungsgehalts erscheint. –

So bewährt sich an dem allgemeinen Beziehungsausdruck, der sich in der Kopula darstellt, die gleiche Grundrichtung der Sprache, die wir in aller sprachlichen Gestaltung der besonderen Beziehungsbegriffe verfolgen konnten. Es ist dieselbe Wechselbestimmung des Sinnlichen durch das Geistige, des Geistigen durch das Sinnliche, die wir auch hier wiederfinden – wie wir sie zuvor in der sprachlichen Darstellung der Raum- und Zeitbeziehung, der Zahlbeziehung und der Ich-Beziehung gefunden


  1. [1] Vgl. italien. stato, franz. été von lat. stare als Partizipialformen zu essere und être. Eben dieser Hilfsgebrauch des sta – ‚stehen‘ war nach Osthoff, Vom Suppletivwesen der idg. Sprachen, S. 15 auch der altkeltischen Sprache bekannt.
  2. [2] So hängt got. wairþan (werden) mit lat. vertere etymologisch zusammen und ebenso geht z. B. das griechische πέλω auf eine Wurzel zurück, die im Altindischen ‚sich regen, bewegen, umherstreichen, fahren, wandern‘ besagt. Näheres bei Brugmann, Kurze vgl. Grammat., S. 628 und bei Delbrück, Vgl. Syntax III, 12 ff.
  3. [3] Vgl. z. B. in den neueren Sprachen: diventare, divenire, devenir, engl, to become, vgl. auch Humboldt, Einl. zum Kawi-Werk, W. VII, 218 f.
Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 292. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/308&oldid=- (Version vom 23.3.2023)