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Seite:Philosophie der symbolischen Formen erster Teil.djvu/222

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Gegensatz und Gegenteil heraus gestalten muß. Als die wesentlichen logischen Eigenschaften der mathematischen Zahlenreihe hat man ihre Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit, ihre Einzigkeit, ihre unendliche Fortsetzbarkeit und die völlige Äquivalenz und Gleichwertigkeit ihrer einzelnen Glieder bezeichnet[1]. Aber keines dieser Merkmale trifft auf jenes Verfahren der Zahlbildung zu, das in der Sprache seinen ersten Ausdruck und Niederschlag findet. Hier gibt es kein notwendiges und allgemeingültiges Prinzip, das alle zahlenmäßigen Setzungen mit einem geistigen Blicke zu umfassen und durch eine einheitliche Regel zu beherrschen erlaubt. Hier gibt es keine Einzigkeit „der“ Zahlreihe schlechthin, – sondern jede neue Klasse von zählbaren Objekten erfordert, wie wir gesehen haben, im Grunde einen neuen Ansatz und neue Mittel der Zählung. Auch von der Unendlichkeit der Zahl kann noch keine Rede sein: das Bedürfnis wie die Möglichkeit des Zählens reicht nicht weiter, als die Fähigkeit der anschaulichen und vorstellungsmäßigen Verknüpfung von Gegenständen zu Gruppen mit ganz bestimmten anschaulichen Gruppen-Charakteren reicht[2]. Ebensowenig geht das Gezählte in den Zählakt als ein mit keiner qualitativen Eigenschaft mehr Behaftetes, als bestimmungslose Einheit ein, sondern es bewahrt seinen besonderen Ding- oder Eigenschaftscharakter. Bei den Eigenschaftsbegriffen äußert sich dies darin, daß sich auch bei ihnen die Form der Abstufung und der reihenmäßigen Zusammenfassung nur ganz allmählich entwickelt. Betrachtet man die Form der Steigerung des Adjektivs, die Formen des Positiv, Komparativ und Superlativ, die unsere Kultursprachen ausgebildet haben, so liegt in ihnen jedesmal ein allgemeiner Begriff, ein bestimmtes generisches Merkmal zugrunde, das in der Steigerung nur seiner Größe nach variiert wird. Aber diesem Unterschied der reinen Größenbestimmungen steht in den meisten dieser Sprachen noch deutlich erkennbar ein anderes Verfahren gegenüber, das den Größenunterschied selbst als einen inhaltlichen Artunterschied auffaßt. Die Suppletiverscheinungen, die im Semitischen und im Indogermanischen in der Steigerung der Adjektiva auftreten, sind die sprachlichen Zeugen dieser Auffassung. Wenn z. B. im indogermanischen Kreise bestimmte Eigenschaftsbegriffe – wie gut und schlecht, übel und schlimm, groß und viel, klein und wenig – nicht von einem einzigen Grundstamm, sondern von ganz verschiedenen Wortstämmen gebildet werden (wie dies z. B. in unserem „gut“ und „besser“, im lat. bonus,


  1. [1] S. z. B. G. F. Lipps, Untersuchungen über die Grundlagen der Mathematik. Wundts Philos. Studien, Bd. IX–XI, XIV.
  2. [2] Vgl. hrz. die treffenden Bemerkungen Wertheimers, a. a. O., bes. S. 365 ff.
Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 206. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/222&oldid=- (Version vom 21.11.2022)