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Seite:Philosophie der symbolischen Formen erster Teil.djvu/217

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des Ich und Du entfaltet, von der „Eins“ zur „Zwei“ fortgeht – daß es ein weiterer bedeutsamer Schritt ist, wenn die „Drei“ in diesen Kreis einbezogen wird, daß aber, darüber hinaus, die Kraft der Auseinanderhaltung, die Leistung der „Diskretion“, die zur Zahlbildung hinführt, gleichsam erlahmt. Bei den Buschmännern reichen die Zahlausdrücke eigentlich nur bis Zwei: schon der Ausdruck für Drei besagt nichts anderes als ‚viel‘ und wird in Verbindung mit der Fingersprache für alle Zahlen bis 10 hinauf gebraucht[1]. Auch die Ureinwohner von Viktoria haben keine Zahlworte über 2 hinaus entwickelt. In der Binandele-Sprache auf Neu-Guinea sind nur drei Zahlworte für 1, 2, 3 vorhanden, während Zahlen über 3 durch Umschreibung gebildet werden müssen[2]. In allen diesen Beispielen, denen sich viele andere an die Seite stellen lassen[3], tritt deutlich hervor, wie eng der Zählakt ursprünglich an der Anschauung des Ich, Du und Er haftet und wie er sich von ihr nur ganz allmählich loslöst. Die besondere Rolle, die der Dreizahl in der Sprache und im Denken aller Völker zukommt[4], scheint hierin ihre letzte Erklärung zu finden. Wenn man von der Zahlauffassung der Naturvölker allgemein gesagt hat, daß jede Zahl hier noch ihre eigene individuelle Physiognomie habe, daß sie eine Art mystisches Sein und eine mystische Besonderheit besitze, so gilt dies vor allem von der Zwei und der Drei. Beide sind Gebilde besonderer Art, sie besitzen gleichsam je eine spezifische geistige Tönung, kraft deren sie sich aus der gleichförmigen und homogenen Zahlenreihe herausheben. Auch in denjenigen Sprachen, die ein reich entwickeltes und durchgebildetes „homogenes“ Zahlsystem besitzen, ist diese Sonderstellung der Zahlen 1 und 2, unter Umständen auch der Zahlen von 1 bis 3 oder von 1 bis 4, an gewissen formalen Bestimmungen noch deutlich kenntlich. Im Semitischen sind die Zahlworte für 1 und 2 Adjektiva, die übrigen dagegen abstrakte Nomina, die sich das Gezählte im


  1. [1] Vgl. Fr. Müller, Grundriß I, 2, 26 f.
  2. [2] Vgl. Sayce, Introduction to the science of language I 412.
  3. [3] Solche Beispiele insbes. aus dem Gebiet der Papuasprachen finden sich bei Ray, Torres-Expedit. III, 46, 288, 331, 345, 373; s. auch Fr. Müller, Die Papuasprachen, Globus, Bd. 72 (1897) S. 140. Im Kiwai wird dasselbe Wort (potoro), das zur Bezeichnung des Trials dient, auch für 4 angewandt: seine Bedeutung ist daher wahrscheinlich ‚wenige‘, während jede Zahl über 3 durch sirio ‚viele‘ wiedergegeben wird (Ray, a. a. O., S. 306). Für die melanesischen Sprachen s. H. C. v. d. Gabelentz, a. a. O., S. 258. Bei den Bakairi bestehen nach K. v. d. Steinen deutliche Anzeichen dafür, daß die 2 die „Grenze der alten Arithmetik“, der Ausdruck der Vielheit schlechthin gewesen ist; das Wort, das hier für sie im Gebrauch ist, wird von ihm auf eine Wortverbindung zurückgeführt, die eigentlich „mit dir“ besagt. (Die Bakairi-Sprache, S. 352 f.).
  4. [4] S. hrz. das Material bei Usener, Dreizahl, Rheinisches Museum, N. F., Bd. 58.
Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 201. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/217&oldid=- (Version vom 21.11.2022)