die Fähigkeit des „Zählens“ nur ganz unvollkommen entwickelt ist, wird berichtet, daß nichtsdestoweniger das Vermögen der Unterscheidung konkreter Gesamtheiten bei ihnen aufs feinste ausgebildet ist. Wenn aus dem Trupp der zahlreichen Hunde, die sie bei der Jagd mit sich führen, beim Aufbruch auch nur einer fehlt, so wird dies sofort erkannt, und ebenso erkennt der Besitzer einer Herde von 4–500 Rindern, wenn diese nach Hause getrieben wird, schon von fern her, ob einige von ihnen, ja auch welche von ihnen fehlen[1]. Hier sind es individuelle Vielheiten, die je an einem besonderen individuellen Merkmal erkannt und unterschieden werden: – die „Zahl“ der Menge tritt, sofern von ihr überhaupt gesprochen werden kann, nicht in der Form der bestimmten und gemessenen Zahlgröße, sondern als eine Art konkreter „Zahlgestalt“, als eine anschauliche Qualität hervor, die an dem zunächst noch völlig ungegliederten Gesamteindruck der Menge haftet[2].
In der Sprache spiegelt sich diese Grundauffassung am deutlichsten darin wider, daß sie ursprünglich keine schlechthin allgemeinen Zahlausdrücke kennt, die auf jeden beliebigen zählbaren Gegenstand anwendbar sind, sondern, daß sie für besondere Klassen von Objekten je eine besondere, ihnen entsprechende Zahlbezeichnung verwendet. Solange die Zahl noch ausschließlich als Dingzahl genommen wird, solange muß es im Grunde ebensoviele verschiedene Zahlen und Zahlgruppen geben, als es verschiedene Klassen von Dingen gibt. Ist die Zahl einer Menge von Gegenständen nur als ein qualitatives Attribut gedacht, das den Dingen in ganz der gleichen Weise, wie eine bestimmte räumliche Gestaltung oder wie irgendeine sinnliche Eigenschaft zukommt – so entfällt auch für die Sprache die Möglichkeit, sie von sonstigen Eigenschaften abzusondern und für sie eine allgemeingültige Ausdrucksform zu erschaffen. Wirklich zeigt sich auf primitiven Stufen der Sprachbildung noch überall, daß die Zahlbezeichnung mit der Ding- und Eigenschaftsbezeichnung unmittelbar verschmilzt. Dieselbe inhaltliche Bezeichnung dient hier zugleich als Ausdruck der Beschaffenheit des Gegenstandes, wie als Ausdruck seiner Zahlbestimmung und seines Zahlcharakters. Es gibt Worte, die gleichzeitig je eine besondere Art von Objekten und eine besondere Gruppeneigenschaft dieser Objekte zum Ausdruck
- ↑ [1] Dobritzhoffer, Historia de Abiponibus; vgl. Pott, a. a. O., S. 5, 17 u. s. w.
- ↑ [2] Zu diesem qualitativen Charakter der primitiven „Zahlen“ und Zählungen vgl. bes. die ausgezeichneten, auf ein reiches Beispielmaterial gestützten Darlegungen Wertheimers, Das Denken der Naturvölker, Zeitschr. für Psychologie, Bd. 60 (1912), S. 321 ff.
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 188. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/204&oldid=- (Version vom 28.10.2022)