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Seite:Philosophie der symbolischen Formen erster Teil.djvu/107

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Lehre, daß die Urworte der Sprache lediglich auf konventionelle Setzungen zurückgingen; auch er fordert zwischen ihnen und ihren Bedeutungen einen „natürlichen“ Zusammenhang. Wenn die gegenwärtige Phase der Sprachentwicklung, wenn unsere „Lingua volgare“ diesen Zusammenhang nicht mehr erkennen läßt, so hat dies keinen anderen Grund, als daß sie sich von ihrem eigentlichen Urquell, von der Sprache der Götter und Heroen, mehr und mehr entfernt hat. Aber selbst in der heutigen Verdunklung und Zersplitterung enthüllt sich dem wahrhaft philosophischen Blick noch die ursprüngliche Verknüpfung und Verwandtschaft der Worte mit dem, was sie bedeuten. Da fast alle Worte von natürlichen Eigenschaften der Dinge oder von sinnlichen Eindrücken und Gefühlen hergenommen sind, so ist die Idee eines geistigen „Universalwörterbuches“, das die Bedeutungen der Worte in allen verschiedenen artikulierten Sprachen aufweist und sie sämtlich auf eine ursprüngliche Einheit der Ideen zurückführt, nicht vermessen. Die eigenen Versuche, die Vico in dieser Richtung unternimmt, zeigen freilich noch die ganze naive Willkür einer rein spekulativen „Etymologie“, die durch kritische oder historische Rücksichten in keiner Weise eingeschränkt wird[1]. Alle Urworte waren einsilbige Wurzeln, die entweder einen objektiven Naturlaut onomatopoetisch wiedergaben, oder die als reine Empfindungslaute der unmittelbare Ausdruck eines Affekts, eine Interjektion des Schmerzes oder der Lust, der Freude oder der Trauer, der Verwunderung oder des Schrecks, waren[2]. Einen Beleg für diese seine Theorie der Urworte, als einfacher und einsilbiger Interjektionslaute, findet Vico z. B. in der deutschen Sprache, die er – wie später Fichte – als eine eigentliche Ursprache, als eine Lingua madre ansieht, weil die Deutschen, die niemals von fremden Eroberern beherrscht worden seien, den Charakter ihrer Nation und ihrer Sprache von alters her rein bewahrt hätten. An die Bildung der Interjektionen schließt sich ihm sodann die der Pronomina


  1. [1] Wie sehr diese naive Auffassung des Sinnes und der Aufgabe der „Etymologie“ noch im 18. Jahrhundert in der Sprachwissenschaft selbst verbreitet war, zeigt z. B. die Rekonstruktion der Ursprache, die in der berühmten holländischen Philologenschule, bei Hemsterhuis und Ruhnken versucht wurde. Näheres hierüber bei Benfey, Gesch. der Sprachwissenschaft, S. 255 ff .
  2. [2] Vgl. hrz. das charakteristische Beispiel in Vicos Scienza nuova Lib. II: Della Sapienza poetica (edit. Napoli 1811, Vol. II, 70 f.): „Seguitarono a formarsi le voci umane con l’Interjezione, che sono voci articolate all empito di passoni violente, che ’n tutte le lingue sono monosillabe. Onde non è fuori del verisimile, che da primi fulmini incominiciata a destarsi negli uomini la maraviglia, nascesse la prima Interjezione da quella di Giove, formata con la voce pa, e che poi restò raddoppiata pape, Interjezione di maraviglia; onde poi nacque a Giove il titolo di Padre degli uomini e degli Dei“ etc.
Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 91. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/107&oldid=- (Version vom 12.9.2022)