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Seite:PhilonVirtGermanCohn.djvu/059

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Philon: Ueber die Tugenden (De virtutibus) übersetzt von Leopold Cohn

203 Aber warum muss ich an diese erinnern und sehe von dem ersten Menschen, dem erdgeborenen, ab? er, der hinsichtlich edler Abkunft keinem Sterblichen vergleichbar ist, der durch die Hand Gottes mit höchster plastischer Kunst zur körperlichen Figur gestaltet war, der einer Seele gewürdigt wurde, die nicht von einem geschaffenen Wesen stammt, sondern von Gott, der ihm von seiner eigenen Kraft einhauchte, soviel ein sterbliches Wesen aufzunehmen imstande war, — besass dieser nicht den höchsten Adel, mit dem kein anderer, der je zur Berühmtheit gelangt ist, sich zu vergleichen vermag? 204 Denn der Ruhm jedes andern Adels rührt von dem Glücke der Vorfahren her, die Vorfahren sind aber Menschen, hinfällige und vergängliche Geschöpfe, und ihr Glück ist unbeständig und meistens nur von kurzer Dauer, der Vater jenes (ersten Menschen) dagegen war kein Sterblicher, sondern der ewige Gott. 205 Da er nun gewissermassen Gottes Ebenbild war hinsichtlich der leitenden Vernunft in der Seele, hätte er dieses Ebenbild fleckenrein bewahren müssen, indem er soweit als möglich in den Tugenden seines Schöpfers wandelte, da ihm doch zur Wahl wie zur Vermeidung die gegensätzlichen Dinge vorgelegt waren, das Gute und das Schlechte, das Schöne und das Hässliche, das Wahre und das Falsche; er wählte aber lieber das Falsche, Hässliche und Schlechte und liess das Gute, Schöne und Wahre unbeachtet. Daher musste er natürlich das sterbliche Leben für das unsterbliche eintauschen, er ging des Glückes und der Glückseligkeit verlustig und musste sich einem mühseligen und elenden Leben zuwenden.

206 (4.) Aber diese Beispiele mögen allgemein als Normen für alle Menschen gelten, dass sie sich nicht mit ihrer Zugehörigkeit zu einem grossen Geschlechte brüsten, wenn sie der Tugend bar sind. Für die Juden gibt es aber noch besondere ausser den allgemeinen. Unter den Abkömmlingen[1] der Stammväter dieses Geschlechts gibt es nämlich einige, denen die Tugenden der Vorfahren gar nichts genützt haben, sobald sie sich tadelnswerter [p. 441 M.] und straffälliger Handlungen schuldig machten, auch wenn sie


  1. Nach ἀρχηγετῶν scheint παίδων oder ἀπογόνων ausgefallen zu sein, denn mit ἀρχηγετῶν sind offenbar die drei Erzväter gemeint.
Empfohlene Zitierweise:
Philon: Ueber die Tugenden (De virtutibus) übersetzt von Leopold Cohn. Breslau: H. & M. Marcus, 1910, Seite 371. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhilonVirtGermanCohn.djvu/059&oldid=- (Version vom 1.8.2018)