Philon: Der Erbe des Göttlichen (Quis rerum divinarum heres sit) übersetzt von Joseph Cohn | |
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zu kümmern. Natürlich befleißigen sie sich auch der Undeutlichkeit; Undeutlichkeit aber ist tiefe Finsternis in der Rede, und Finsternis ist den Dieben eine Helferin. 303 Deshalb hat Moses den Hohenpriester mit „Klarheit und Wahrheit“ geschmückt, denn er verlangt, daß die Sprache des Weisen ganz klar und wahr sei.[1] Aber die meisten jagen der unklaren und falschen nach, und die breite Masse der gewöhnlichen und armseligen Menschen läßt sich täuschen und schließt sich ihnen an. 304 Solange nun „die Sünden der Amorräer nicht vollzählig“ sind, d. h. die (Irrtümer) der trügerischen Reden, weil sie nicht widerlegt sind, sondern noch Anziehungskraft haben und uns durch ihre scheinbare Richtigkeit für sich einnehmen, sind wir nicht imstande, von ihnen abzurücken und sie zu verlassen, und verharren in der Täuschung. 305 Werden aber alle falschen, glaubhaft scheinenden Meinungen[2] durch richtige Gründe vollständig widerlegt und ihre Irrtümer vollzählig aufgedeckt, so werden wir, ohne uns umzudrehen, fliehen, sozusagen die Schiffstaue lösen, aus dem Lande der Lügen und Trugschlüsse hinwegeilen, uns sehnen, in die sicheren Zufluchtsstätten und Häfen der Wahrheit einzufahren. 306 Das ist es, was uns durch jenen Satz kundgetan wird; denn unmöglich ist es, die glaubhaft gemachte Lüge zu fliehen, zu hassen und zu verlassen, wenn nicht der Irrtum in ihr vollzählig und vollständig aufgedeckt wurde; aufgedeckt aber wird er durch gründliche Widerlegung mit Gegenüberstellung und Erweis der Wahrheit.
[61] 307 Weiter sagt (Moses): „Als die Sonne im Untergehen war, entstand eine Flamme“ (1 Mos. 15, 17),[3] womit er dartun will, daß die Tugend eine spätgeborene Sache ist, ja daß sie erst beim „Untergehen“ des Lebens, wie manche sagen, Festigkeit gewinnt. Die Tugend schildert er als Flamme; denn wie die Flamme den hingeworfenen Brennstoff verzehrt und den benachbarten Luftraum erleuchtet,
Philon: Der Erbe des Göttlichen (Quis rerum divinarum heres sit) übersetzt von Joseph Cohn. H. & M. Marcus, Breslau 1929, Seite 292. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloHerGermanCohn.djvu/79&oldid=- (Version vom 4.8.2020)
- ↑ Die Urim und Tummim (2 Mos. 28, 30) werden in der Sept. mit δήλωσις und ἀλήθεια übersetzt. Unter δήλωσις versteht Philo hier und All. Erkl. III § 120 Klarheit, dagegen Leben Mosis II § 127f. und Über d. Einzelges. I § 88ff. Offenbarung.
- ↑ Die hier von Philo angewandten Ausdrücke ἄδηλον = incertum, πιθανόν das Glaubhafte, Glaubwürdige, aber nicht absolut Wahre usw. sind termini aus der stoischen Erkenntnistheorie, siehe Schmekel S. 344ff.; Windelband, Gesch. der alten Philosophie S. 199.
- ↑ Für עלטה (Finsternis) hat auch Sept. hier φλόξ (Flamme), während sie בעלטה Ez. 12, 6. 7. 12 mit κεκρυμμένος (verhüllt) wiedergibt, also = בלט oder בלאט.