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Seite:PhiloHerGermanCohn.djvu/77

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Philon: Der Erbe des Göttlichen (Quis rerum divinarum heres sit) übersetzt von Joseph Cohn

und Bösen aufgeprägt wurden, und was darauf anscheinend geschrieben wird, das wird, da es auf Feuchtigkeit gesetzt ward, wieder verwischt.[1] 295 Das ist sozusagen das erste Zeitalter der Seele. Das zweite ist dasjenige, das nach dem Kindesalter mit dem Bösen zusammenzuleben beginnt, das die Seele teils aus sich selbst zu erzeugen pflegt, teils von anderen bereitwillig annimmt. Denn der Lehrer von Verfehlungen gibt es viele: Ammen, Erzieher und Eltern und die geschriebenen und ungeschriebenen Staatsgesetze, die hochschätzen, was man verspotten muß; aber auch ohne Lehrer lernt sie von selbst das Tadelnswerte, so daß sie stets im Überfluß mit Bösem belastet ist. 296 Denn, sagt Moses, „es legt sich eifrig des Menschen Herz [p. 516 M.] auf das Böse von Jugend auf“ (1 Mos. 8, 21). Dieses ist das schlimmste „Zeitalter“, symbolisch gesprochen; im wörtlichen Sinne ist es das Jünglingsalter, in dem der Körper mannbar wird und die Seele sich aufbläht, wenn die glimmenden Leidenschaften angefacht werden, „Getreide, Saaten und Felder“ (2 Mos. 22, 6) und alles, worauf sie stoßen, niederbrennen. 297 Dieses krankhafte Zeit- oder Lebensalter muß von einem dritten, wie von einer heilkundigen Philosophie, in ärztliche Behandlung genommen und mit kräftigen und heilsamen Worten besänftigt werden, durch die es eine Entleerung der maßlosen Sündenfülle und eine Anfüllung der hungrigen Leerheit an guten sittlichen Grundsätzen und der schrecklichen Öde erhalten wird. 298 Nach dieser Behandlung erwachsen der Seele im vierten Zeitalter Kraft und Stärke durch sichere Aufnahme der Einsicht und unerschütterlich festes Beharren in allen Tugenden.[2] Das meint das Bibelwort: „Im vierten Zeitalter werden

Empfohlene Zitierweise:
Philon: Der Erbe des Göttlichen (Quis rerum divinarum heres sit) übersetzt von Joseph Cohn. H. & M. Marcus, Breslau 1929, Seite 290. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloHerGermanCohn.djvu/77&oldid=- (Version vom 4.8.2020)
  1. Nach Philo ist also der Mensch von Geburt an nicht sündhaft und schlecht; er wird es erst später durch seine Umgebung, durch die Verführung und das Beispiel seiner Lebensgenossen. Dasselbe sagt er Über d. Geburt Abels § 15. Vgl. auch All. Erkl. I § 61. [Es ist jedoch zu beachten, daß nach dem folgenden die Seele die κακά zum Teil „aus sich erzeugt“. Diese unklare Angabe ist mit der altstoischen Lehre, daß die διαστροφή nur aus Sinnenschein und bösem Beispiel stamme (VStFg. III 228), kaum vereinbar und scheint unter Posidonius' Einfluß zu stehen, der eine angeborene Neigung zur ἡδονή annahm. Vgl. die Fragmente bei Galen Plac. 424, 463 und den m. E. aus ihm stammenden Auszug bei Cicero De leg. I 47; dazu Poseid. met. Schr. II 245. I. H.]
  2. Diese durchaus ungünstige Auffassung des Kindesalters steht zu derjenigen der Bibel (Psalm 8,3) und des rabbinischen Judentums im Gegensatz; sie ist kennzeichnend für alle Weltanschauungen, die sich die sittliche Bildung nur auf gelehrter Grundlage denken können; vgl. Jonas Cohn, Befreien und Binden, 1926, 21. I. H.