Philon: Der Erbe des Göttlichen (Quis rerum divinarum heres sit) übersetzt von Joseph Cohn | |
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von den Stoikern begründete Lehre von der Einheit der Gegensätze und der auf ihnen beruhenden Weltharmonie zu behandeln. Wie die in § 132 gegebenen Beispiele lehren, bilden die Gegensätze ursprünglich eine Einheit, sie gehören zueinander, sie bedingen und benötigen einander (Über die Cherubim § 111f.). Wie das Licht zu seiner Kennzeichnung und Würdigung die Finsternis benötigt, so werden das sittlich Gute, die Wahrheit, die Tugend, die Gerechtigkeit usw. in ihrem ganzen Wert und ihrer Vorzüglichkeit dadurch erkannt, daß man jedes seinem Gegenteil gegenüberstellt und mit ihm vergleicht (§ 306). Die Gegensätze sind durch unsichtbare „geistige Sehnen“ verbunden (§ 242); „göttliche Kräfte“ durchziehen und durchdringen sie, heben jedoch ihre Gegensätzlichkeit nicht auf, sondern lassen die Verschiedenheit ihrer Naturen deutlich erkennen (§ 312). Diese „göttlichen Kräfte“ sind offenbar die des alles zusammenhaltenden Logos (§ 188). Dessen Wirksamkeit als Teiler wird § 235 mit der kritischen Tätigkeit des Menschengeistes verglichen, der ebenfalls alles sichtet und sondert, schneidet und zerlegt, um zur Erkenntnis der Wahrheit, zu einem richtigen Urteil zu gelangen. Ohne Zweifel hat die Betrachtung dieser Seite des Menschengeistes die griechischen Philosophen zur Lehre von dem teilenden Logos geführt. Bei Heraklit hängt diese Lehre sicherlich zusammen mit seinen Lehrsätzen „alles fließt“, „alles ist in beständigem Wechsel“, „Überfluß und Mangel“ (heraklitische Bezeichnung für das Werden der Welt aus dem Feuer und ihr Aufgehen in Feuer), die aber Philo All. Erkl. III § 7 bei der Erklärung von 4 Mos. 5, 2 (die Entfernung des זב aus dem Lager) als Gegner der Lehre vom Weltuntergang (§ 228) scharf bekämpft. Nur die Lehre von der Einheit der Gegensätze akzeptiert er, weil ihm 1 Mos. 15, 10 diese zu enthalten scheint.
Inkonsequenzen begegnen uns auch in dieser philonischen Schrift nicht selten. So folgt er bei der Einteilung der Seelenkräfte bald der platonischen (§ 225), bald der stoischen Ansicht (§ 232); so nimmt er die Abraham befohlene Auswanderung aus der Heimat bald im buchstäblichen Sinne (§ 26, 277, 287), bald versteht er darunter die Abwanderung und Loslösung von der chaldäischen Weltvergötterung (§ 97f. und § 289), bald die Auswanderung aus sich selbst, das Sichversetzen in den ekstatischen Zustand (§ 69). Für die sonderbare Art Philos, die mannigfachsten Theorien in einen Bibelvers hineinzuinterpretieren, geben uns die §§ 277–283 ein interessantes Beispiel. Die einfache und einzig richtige Erklärung der an Abraham
Philon: Der Erbe des Göttlichen (Quis rerum divinarum heres sit) übersetzt von Joseph Cohn. H. & M. Marcus, Breslau 1929, Seite 215. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloHerGermanCohn.djvu/2&oldid=- (Version vom 23.2.2020)