in der Zeit darstellen würden. Was irgendwo unseren Sinnen zugänglich sein soll, muß auch irgendwann erscheinen, und umgekehrt muß das irgendwann Erscheinende auch irgendwo auffindbar sein. Kurz: die räumliche und die zeitliche Bestimmtheit einer Erscheinung vermag der menschliche Verstand wohl voneinander zu unterscheiden: in der wirklichen sinnlichen Erfahrung treten jedoch beide Bestimmtheiten in notwendiger Verbindung miteinander auf. Da aber für die raum-zeitliche Bestimmtheit zwei Worte (Raum und Zeit) zur Verfügung stehen, so geschieht es leicht, daß wir an die Stelle der zwei Worte zwei unabhängige Wesenheiten setzen. Die Lehre von Raum und Zeit laboriert an diesem scholastischen Irrtum, und auch die tiefsinnige Kantsche Theorie ist von demselben nicht freizusprechen. Kant erklärt bekanntlich den Raum und die Zeit für zwei Formen, a priori, unserer reinen Anschauung, ohne jedoch irgendwo zu betonen, daß diese zwei Formen im Grunde bloß eine Form ausmachen. Nun kann aber bei der wirklichen Wahrnehmung von sinnlichen Erscheinungen nie bloß eine jener beiden Formen zur Anwendung gelangen, weil es sonst Erscheinungen geben müßte, denen eine bloß räumliche oder bloß zeitliche Natur zukommt. Da also – um die Kantschen Termini zu behalten – beide Anschauungsformen in der wirklichen Wahrnehmung stets im Vereine wirken, so bethätigen sie sich im Grunde genommen so, als ob sie bloß eine Form ausmachen würden. Allerdings ist der Verstand fähig, die räumliche Determination einer Erscheinung von ihrer zeitlichen Determination zu sondern, doch ist es von großer Wichtigkeit, nachzuweisen, daß es unmöglich ist, einen Begriff vom Raume ohne Mithülfe des Zeitbegriffes zu bilden, und auch umgekehrt der Zeitbegriff nicht ohne Mithülfe des Raumbegriffes zu stande kommen kann.
Menyhért Palágyi: Neue Theorie des Raumes und der Zeit. Wilhelm Engelmann, Leipzig 1901, Seite 2. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PalagyiRaumzeit.djvu/14&oldid=- (Version vom 1.8.2018)