Jünglinge beim Bartwichsen und Kinder bei allerhand anderen Unfug beobachten konnte; neben der Stube eine Schlafkammer, durch eine Dachluke beleuchtet und vom Bett völlig ausgefüllt, kurz, eine herrliche Wohnung, nicht eben viel größer als ein Vogelbauer für lockere Zeisige; dazu ein freundlicher, geistig reger Wirt, der Küster von der Peterskirche, der für seinen Pfarrer, den Universitätsprofessor Fricke, einen ausgezeichneten Kanzelredner und vortrefflichen Menschen, schwärmte, und mir behilflich war, meine trotzige Abneigung gegen die Diener der Kirche zu überwinden, endlich und nicht zuletzt eine liebenswürdige, mütterlich sorgende Wirtin und ein fröhliches Töchterlein im Backfischalter – das war mein neues Heim, in dem ich mich unsagbar wohl fühlte und wieder mit voller Kraft zu arbeiten anfing. Hier blieb ich im freundschaftlichen Verkehr mit der Wirtsfamilie bis ans Ende meiner Studienzeit. Wir machten miteinander häufig Spaziergänge hinaus ins Freie. Ich fand an ihnen willige Abnehmer für meine neubackene Weltweisheit und bereicherte anderseits meine Kenntnisse in manchen Fragen des täglichen Lebens. Einmal wurden wir in einem Gasthause der Umgegend von dem Wirte ungewöhnlich aufmerksam und gut bedient. Zum Danke schrieb ich darüber einen lustigen kleinen Bericht, dessen Aufnahme in die Leipziger Nachrichten mein Hausfreund vermittelte; einen Abdruck davon schickten wir dem Gastwirte zu. Dieser hatte ihn, wie wir später erfuhren, bei der Bewerbung um die Pacht des Schützenhauses in einer Nachbarstadt als Empfehlung benutzt und damit den gewünschten Erfolg erzielt. Es war meine erste Betätigung in der Presse und mir ein überwältigender Beweis für die Macht des gedruckten Wortes. – Daß ich im „Pflasterdepot“ nicht mehr als zehn Mark monatliche Miete, das Frühstück eingeschlossen, zu bezahlen hatte, ließ ich mir gern gefallen, obwohl meine Einkommensverhältnisse keineswegs gedrückte waren.
Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 83. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/97&oldid=- (Version vom 5.6.2024)