werden; dann nannte er uns nicht mehr seine „lieben Jungen“, sondern „meine Herren“, und das genügte auch für den Sorglosesten, sich zusammenzunehmen. Die Kneipe wurde bald aus dem Elderado, das sich durchaus nicht als Bierparadies bewährte, nach der Zahnschen Wirtschaft auf der Rosentalstraße verlegt, just derselben Straße, wo der Held der „verlorenen Handschrift“ gewohnt und die beiden Scheusale Bräuhahn und Speihahn ihr Wesen getrieben hatten. Wir saßen an drei langen Tafeln, nur zwanglos in besondere „Ecken“ gegliedert; da fanden sich befreundete und gleichgestimmte Brüder zusammen und die älteren waren bestrebt, die Erziehung der jüngeren zu männlichem Wesen und ehrenhaftem Benehmen zu fördern. Durch den Zufall der Leibfuchswahl kam ich an die „junge Ecke“. Aber da sich zwischen mir und meinem Leibburschen bei unserer Wesensverschiedenheit nicht das wünschenswerte enge Verhältnis entwickelte, ging ich nach Ablauf des Fuchssemesters zur benachbarten Ecke, dem „Sumpf“ über. Ganz unpassend war der urwüchsige Name dieses Kreises nicht, denn es herrschte hier eine ziemliche Bierfeuchtigkeit, aus der sich zuweilen nächtliche Irrlichter entwickelten. Aber nicht das zog mich an, sondern der Umstand, daß die Ecke manche der besten Köpfe von reiferem Alter und aus allen Fakultäten aufwies, gescheite und witzige Burschen, mit denen sich angeregte Gespräche und Wortkämpfe über wissenschaftliche und politische Fragen führen ließen. Da war mein Platz, und ich verzichtete gern auf die Vorzüge anderer Gruppen wie die unermüdliche Sangesfreudigkeit und Musikschwärmerei der „Kruzianerecke“, die Beschaulichkeit und Schweigseligkeit der „Niedersachsen“, die Genügsamkeit der „Perser“, die am liebsten per se waren, auch sogar den feinen Ton der „Sphäre“, auf deren Tische am Ersten des Monats die reichlich rollenden neuen Reichsgoldmünzen einen überirdischen Klang hervorbrachten. Zur Belebung der Geselligkeit trug es viel bei, daß im Vereine die Sachsen mit sangesfrohen Söhnen aller
Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 66. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/78&oldid=- (Version vom 3.6.2024)