herrlichen Stephansdom, die Aussicht vom Turm erregte unser Entzücken. Im Karltheater erfuhren wir bei dem Versuche, uns an einer lustigen Posse zu vergnügen, eine arge Enttäuschung, so daß wir das fade französische Stück, das von der Masse doch lebhaft beklatscht wurde, entrüstet schon vor dem Ende verließen. Dagegen hätte der Besuch des Troubadour im prachtvollen Opernhause gewiß einen Genuß geboten, wenn nicht der Aufenthalt im überfüllten Stehparkett eine Qual gewesen wäre; da erstickte all unsere Kunstbegeisterung in Dampf und Dunst. Große Erwartungen glaubten wir auf einem „Wiener Maskenball“ im Kolosseum zu Hietzing setzen zu dürfen, fanden aber dort nur ein Gewühl Tausender von Fremden mit einigen gemieteten Masken untermischt. Die angekündigte Pantomime, ein uns noch unbekanntes Spiel, auf das es uns besonders ankam, wurde erst in den Nachtstunden aufgeführt. Nachher war keine Fahrgelegenheit mehr aufzutreiben, so daß wir den zwei Stunden langen Weg nach unserer Wohnung zu Fuß machen mußten. Wie einst Theseus den Ariadnefaden, so benutzten wir als Richtschnur die Tramwaygleise, um durch das menschenleere finstere Labyrinth der Großstadtgassen zu unserer Wohnstätte zu gelangen. In der dritten Morgenstunde waren wir heraus, freilich nicht mit so berechtigtem Selbstgefühl wie der Griechenheld, denn vertilgt hatten wir weiter nichts Schädliches, als etliche Glas schweren Dreherschen Bieres. Totmüde warfen wir uns aufs Lager, wo uns der verwunderte Gastfreund zur gewohnten Frühstückszeit noch in tiefem Schlafe fand. – Ein Ausflug nach Schönbrunn mit seinem ausgedehnten Schloßbau und der schönen Aussicht auf der Terrasse Gloriette war lohnend genug, um ihn zwei Tage darauf zu wiederholen. Besonders fesselte uns dort der reichbesetzte Tiergarten; hier wurden in behaglichem Freilichtgefängnis alle die wilden Wappentiere der von den Habsburgern im Laufe der Jahrhunderte eingefangenen Völkerschaften an Fügsamkeit und Sauberkeit gewöhnt. Sehr vergnüglich
Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 51. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/61&oldid=- (Version vom 29.5.2024)