als Klassenaufgabe geliefertes Gedicht, das ich bei der Schulfeier mit dem ganzen Hochgefühl eines Festredners vertrug, schloß mit den Worten:
So steht er da, ein Abbild deutscher Jugend,
und schaut beglückt des neuen Reiches Glanz,
nicht mehr des Kampfes wilde Bahnen suchend,
der ihm verlieh des Ruhmes Eichenkranz;
und fröhlich schart sich um ihn Deutschlands Jugend
zu heitrer Lust nach kühnem Waffentanz.
„Denn was berauscht die Leier vorgesungen,
das hat des Schwertes freie Tat errungen.“
Mein Rektor wollte das Gedicht in eine von ihm geplante Sammlung von Musteraufsätzen aufnehmen. Diese ist aber nie erschienen; vielleicht hat der dafür ausersehene Verleger vor meinen fünfzehn Stanzen einen solchen Schreck bekommen, daß er das Unternehmen im Stiche ließ. Die Handschrift fand ein ehrenvolles Begräbnis im Körnermuseum.
Die Zeitverhältnisse waren ganz dazu angetan, meine Anteilnahme am politischen Leben immer reger zu gestalten. Eifriges Zeitungslesen weihte mich in die Bestrebungen der Parteien ein. Im Winter 1871/72 ging ich zwischen Mittagstisch und Nachmittagsunterricht oft nicht nach Hause, sondern in den Zuhörerraum des Landtags. Dort habe ich einen großen Teil der Verhandlungen über die neuen sächsischen Verwaltungsgesetze mit angehört. Ich fühle mich dabei besonders durch die maßvollen und formvollendeten Reden des nationalliberalen Führers Professor Karl Biedermann aus Leipzig gefesselt, der mir seitdem ein Vorbild für künftige politische Betätigung war. Zwei Jahrzehnte später fand ich Gelegenheit, diesem im Parteikampfe viel angefeindeten Politiker, der sich stets als ein charaktervoller Vaterlandsfreund bewährt hatte, meine Verehrung durch die Tat zu beweisen, und erlebte die Freude, daß mir der sonst so zurückhaltende Mann noch im hohen Alter seine Freundschaft
Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 44. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/52&oldid=- (Version vom 28.5.2024)