bescheiden unter die Bürgerhäuser sich einordnende Rathaus nicht außer acht, dessen goldne Aufschrift Salus publica suprema lex mir die beruhigende Gewißheit gab, daß ich mir vorläufig um das Wohl der Stadt keine Sorge zu machen brauchte.
Weiter schlenderte ich durch die „Wilsche Gasse“, die sich, nach den Namen auf den Firmenschildern zu urteilen, von den Folgen der großen Judenverbrennung des Jahres 1349 völlig erholt zu haben schien, hinaus nach dem Postplatze. Jawohl, der Postplatz! Den kannte ich von Kindesbeinen an, längst bevor ich ihn gesehen. Hatten sich doch im Mai 1849 hier die Revolutionskämpfe abgespielt, deren Abbildung mir auf dem bewußten Örtchen in meinem Geburtshinterhause täglich vor Augen stand. O wie da die Kanonenkugeln der sächsischen Artillerie die Mauern des Postgebäudes und des Turmhauses zerfleischten und die blauen Bohnen der Turnerscharfschützen auf die stürmenden Pickelhauben niederprasselten! Das waren Bilder, die für immer im Gedächtnis hafteten. Mit ihnen beschäftigt, setzte ich meinen Heimweg zum friedlich schnurrenden Peter durch die Ostra-Allee fort, an ihrem Eingange ob der Rätsel des Menschenschicksals mit den vor der Freimaurerloge liegenden Sphinxen einen verständnisvollen Blick austauschend und an ihrem Ausgange die vor allem wichtige Ernährungsfrage lösend, indem ich im Büdchen schnell noch ein frisches Sechspfundbrot unter den Rockschößen barg.
Das war fast Tag für Tag mein Spaziergang. Zu Ausflügen in die Umgegend bin ich bei der Knappheit meiner Zeit nicht gar oft gekommen. Mitunter wandelte ich, Luftschlösser bauend, allein durch die Baumreihen des Ostrageheges, wo sechzig Jahre früher der kleine Korse geritten, den Plan des verhängnisvollen Feldzugs nach Rußland in seinem Haupte wälzend. Bisweilen ging ich mit meinem in der Neustadt verbliebenen Busenfreunde in das Tal der leise durch den Heidesand rieselnden Prießnitz oder dem Elbstrome entgegen, der noch immer unfehlbar seine belebende Wirkung auf
Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 36. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/44&oldid=- (Version vom 4.6.2024)