Thalatta! thalatta! riefen freudetrunken die zehntausend Griechen Xenophons, als sie auf dem Rückzuge aus Persien, den sie sich durch Wüsten und Gebirge hindurch erkämpfen mußten, in der Ferne das schimmernde Meer erblickten. Der Führer des Heeres berichtete es in seinem Generalstabswerke, mit dessen Sprache freilich noch heute gar mancher tapfere deutsche Jüngling in heißem Kampfe liegt. Ich kann aus meinem Leben von einem ähnlichen Freudenrausch erzählen, ohne leugnen zu wollen, daß zwischen einem gepanzerten Hopliten mit der Lanze und einem kleinen Advokatenschreiber mit der Gänsefeder gewisse Unterschiede bestehen und ebenso der Abstand zwischen dem Kaukasus und den Bergen um Meißen herum beträchtlich ist. Wasser! Wasser! frohlockte es auch in mir, als ich nach entsagungsvollen Jahren der hirnvertrocknenden Schreibstubenluft in der Rosengasse entrann und draußen die blinkenden Bäche des Wissens rieseln sah, an denen ich mich nun nach Herzenslust zu laben gedachte. An der Quelle der heimischen Nymphe Afra freilich durfte ich den erquickenden Trank nicht schöpfen, in ihren heiligen Hain wurden nur griechisch betende Verehrer eingelassen. Ich mit meiner bloß etwas Latein stammelnden Zunge mußte weiterziehen, hinauf zur großen Flußgöttin Dresda, bei der die wissensdurstige Jugend aus allen Ländern und Völkern zusammenströmte. Dort hoffte ich später auch noch die Sprache Xenophons verstehen und die Erlebnisse seiner Tapferen genauer kennenzulernen. Mich mit ihnen zu befreunden, mußte mir um so leichter
Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/15&oldid=- (Version vom 5.6.2024)