Rußlands größte Dichter haben die heimatlichen Dörfer besungen, keiner aber hat sie in Wahrheit geschildert.
War ihnen allen das Dorf des eigenen Vaterlandes fremd oder wollten sie es in ihrer Liebe in seiner Düsterkeit und seinem Tiefstand nicht wiedergeben?
Begeben wir uns in ein russisches Dorf, ganz gleich wohin. Ob in der Nähe der Großstadt oder tief drinnen im Urwald, ob irgendwo im Norden der Wolga oder in der Nähe der Kuma, überall finden wir gleichen Tiefstand und gleiche Umnachtung, nur daß die den Kulturzentren entferntesten Dörfer die charakteristischen Merkmale noch krasser entwickelt zeigen.
Diese Ländereien und die des Petersburger Kreises, des Nowgoroder und Pskower Gouvernements kenne ich ebenso genau wie Sibiriens Ansiedlungen.
In jedem Dorfe mit seinen rasch zusammengelehmten oder aus dicken Klötzen gezimmerten Hütten mit Dächern aus Stroh, nimmt das Haus Gottes (die Cerkiew) oder eine Kapelle der orthodoxen Kirche die Hauptstelle ein.
Manchmal ist in Kirchennähe, in irgend einer verlassenen Hütte, auch die Volksschule untergebracht, der die Bauernkinder in der Regel fernbleiben.
Seinen Priester hat das Dorf und seinen Lehrer.
Der erstere sauft und erpreßt der Armut des Dorfes Geschenke für seine Pfarrei, während der letztere zumeist revolutionärer Propagandist, ansonsten aber gleichfalls Säufer ist.
Um diese Dorfrepräsentanten herum, die Glaube und Aufklärung zu vertreten haben, führen Wahrsager, Wundertäter und Hexen ihr dunkles Dasein, auch dunkles Heidentum hat irgendwo in der Nähe seinen Apostel.
Ferdynand Antoni Ossendowski: Schatten des dunklen Ostens. Eurasia, Wien 1924, Seite 13. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ossendowski_-_Schatten_des_dunklen_Ostens.djvu/17&oldid=- (Version vom 20.8.2021)