Ferdynand Antoni Ossendowski: Schatten des dunklen Ostens | |
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Die innere Politik Rußlands und der geistige Tiefstand seines Volkes waren die eigentlichen Ursachen jener, man könnte fast sagen ewigen Hungersnot, die gleich einer unheilbaren, furchtbaren Krankheit dieses Riesenreich zersetzte.
Die allergünstigsten Zeiten des Landes haben es nicht vermocht, von der Landbevölkerung den Hunger abzuwenden.
Erschöpfungstod und Hungertyphus gehen in den Dörfern Rußlands mit dem Alltag Hand in Hand.
Die Primitivität der Landwirtschaft in den meisten Bezirken, wo sich nirgends kulturell geleitete Landgüter befinden, der Eigensinn der Bauern und ihre abergläubische Furcht vor jeder Neuerung in der Handhabung der Landwirtschaft haben von Jahr zu Jahr den Boden geschwächt und die Ernte verringert.
Auch sind weite Strecken Grundbesitz dadurch verödet, daß die Bauern samt Familie die Scholle verließen und in die Fabriksstädte auswanderten.
So zerrissen sich ganze Familien selbst, zerstreuten sich herumirrend über ganz Rußland, verloren jede Beziehung zueinander und begegneten sich oft ihr ganzes Leben lang nicht mehr.
Diese heimatlosen Bauern, denen mit dem Fleck Erde, das ihr Eigen war, jede moralische Basis verloren gegangen, entwickelten sich dann zu Romanhelden im Sinne eines Maxim Gorki, zum demoralisierten, deklassierten Lumpenproletariat.
Die Frauen waren es im besonderen, die rasch dem Untergange verfielen, sie tauchten in Spelunken unter, verfielen den scheußlichsten Krankheiten, die die Straße mit sich bringt, und fanden ihre neue Heimat gewöhnlich in den Häusern, vor deren Türen die rote Laterne brennt.
Ferdynand Antoni Ossendowski: Schatten des dunklen Ostens. Eurasia, Wien 1924, Seite 139. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ossendowski_-_Schatten_des_dunklen_Ostens.djvu/143&oldid=- (Version vom 15.9.2022)