Ferdynand Antoni Ossendowski: Schatten des dunklen Ostens | |
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Die Paläste und Schlösser Rußlands ohne Ausnahme verbargen hinter ihren wehrhaften Mauern und prächtig geschliffenen Glasfenstern gar viele und seltsame Geheimnisse.
Die dunkelsten Existenzen mit nicht selten krimineller Vergangenheit fanden zu Rußlands höchster Gesellschaft, den Zarenhof inbegriffen, ihren freien Zutritt.
Vagabunden, Mönche, Klosterschwestern, falsche und echte, trieben hier in den Häusern der Machtgeschlechter mit Reliquien aller Art, mit Knochen von Heiligen, Holzsplittern des heiligen Kreuzes oder der Jakobsleiter einen schwunghaften Handel.
Sie kamen mit Wundergeschichten, die sich an den Gräbern nicht selig gesprochener Heiliger zugetragen, in die Höfe geschlichen, hielten Messen und Gottesdienste nach dem unbekannten, geheimnisvollen Ritual von Klöstern und Kirchen ab, die zumeist gar nicht existierten.
Epileptische und hysterische Weiber, die in ihren Anfällen prophezeiten, ja politisch orakelten, wurden gerne willkommen geheißen.
Die berühmte Klikuschin-Darjuschka, die Rasputin mit an den Hof gebracht, hatte nicht nur die leichtgläubige Zarin stark beeinflußt, sondern auch den Fürsten Putiatin und den General Wojejkow, den Kommandanten des kaiserlichen Hauptquartiers, mit ihrem Prophetentum in ihren Bann gezogen.
Der dicke, kahlköpfige und weißbärtige Mönch Iwanuschka, der immer barfüßig, aber sorgfältig pedikürt, in schwarzem Talar und mit einem mit Gold und Edelsteinen bedeckten Bischofsstab durch Petrograd lief, veranstaltete für die Zarin und für die Fürstinnen geheime Gottesdienste, in denen er Christis Erscheinung zu beschwören vorgab.
Ferdynand Antoni Ossendowski: Schatten des dunklen Ostens. Eurasia, Wien 1924, Seite 119. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ossendowski_-_Schatten_des_dunklen_Ostens.djvu/123&oldid=- (Version vom 15.9.2022)