Ferdynand Antoni Ossendowski: Schatten des dunklen Ostens | |
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In Rußland begegnen sich immer und überall der Osten mit dem Westen, Zivilisation und ursprüngliches Nomadentum, die Kirche und die alten Götter, die Romantik und das Verbrechen.
Als Beispiel ein Bild: Ein Dorf eröffnet eine Filiale der Volks-Universität. Die Spitzen der Behörden überbieten an Zahl das spärlich erschienene Auditorium.
Wo sind sie, die Bauern, für die man diese Schule geschaffen?
Auf dem Eise des Flusses sind sie, wo eben ein traditioneller Kampf der Fäuste ausgetragen wird, und was will da der Geist, wenn der rohen Kraft ein Vergnügen gemacht wird.
Zwei Dörfer wetteifern miteinander im Kampfe um die Kraft der Faust, um die Ausdauer der Schädel, der Kiefer und der Zähne. Das ist Tradition, ein ritterliches Spiel, eine mittelalterliche Romantik.
Ich sah mir einmal einen solchen Kampf in Tomsk in Sibirien an.
Die Gegner hatten sich in zwei gleiche Lager geteilt. Der Kampf wurde durch kleine Jungen begonnen, die sich unbarmherzig ihre Nasen zerschlugen. Als dann in den Kampf junge Burschen eintraten, da flogen nur so die Fetzen der Kleider.
So ein Kampf dauert lange, setzt erbittert ein und endigt nicht selten mit Verstümmelung, ja manchmal sogar mit dem Tode des Gegners, denn es kommt vor, daß ein Bauer ein Stück Blei oder Eisen in seiner großen Faust verbirgt und damit den Schädel seines Rivalen einschlägt. Diese Kämpfe auf dem Eise geben die Möglichkeit, die Fähigkeiten der Ringer, die ungewöhnliche Kraft der Faust, den Mut, die Ausdauer und die strategischen Talente dieser Menschen zur Schau zu bringen.
Vergegenwärtigen wir uns die Geschichte Rußlands, so sehen wir zum Beispiel, daß in den Freistädten Pskow und Nowgorod bis in die
Ferdynand Antoni Ossendowski: Schatten des dunklen Ostens. Eurasia, Wien 1924, Seite 101. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ossendowski_-_Schatten_des_dunklen_Ostens.djvu/105&oldid=- (Version vom 15.9.2022)