des leitenden Artikels liegt, seinen Gegenstand vollständig zu erschöpfen; wenn vor allen Dingen seine Aufgabe nicht darin bestehen kann, die praktischen Gegensätze der Kunst theoretisch zu vermitteln, (die Vermittelung ist immer nur ein Mittel): etwas unter allen Umständen Förderndes liegt in seinem Begriff; er wird jedenfalls eine Ansicht enthalten, ein individuelles Gepräge tragen und als Ansicht, als selbständig durchgeführte Meinung einen Anspruch auf Kritik Geltung machen und mindestens einen Stein zu dem grossen Gebäude der Musikwissenschaft herbeitragen. Ein specielles Interesse aber wird ihm immer der Stoff verleihen, sofern dieser aus dem gegenwärtigen Zustande der Musik entlehnt ist.
Die Kritik im weitesten Sinne des Worts. Dieses Kapitel soll bei Weitem den grössern Theil unserer Zeitschrift einnehmen. Warum? ergiebt sich aus der Sache selbst. Wir haben den höchsten Begriff von der Kunstkritik. Sie ist ein nothwendiges Moment in der Entwickelung der Kunst. Freilich darf man nicht Alles Kritik nennen, was sich als solche breit macht. Erwägt man indessen, welchen Einfluss z. B. der scharfsinnige Lessing einst auf die Gestaltung der Dichtkunst als Kritiker ausübte, wie er durch das Zurückgehen auf die allgemein gültigen Gesetze der Schönheit die grosse Epoche der deutschen Dichtkunst herbeiführen half, so ergiebt sich historisch nicht bloss der Werth und die Bedeutung, sondern auch die Nothwendigkeit der Kritik. Das Gebiet derselben in der Musik ist sehr umfassend, da wir es hier mit den Kunstproducten und den ausübenden Künstlern fast immer zugleich zu thun haben. Die Grundgedanken einer zeitgemässen und für weil sein die Kunst erspriesslichen Kritik zu entwickeln, ist hier nicht der Ort. Besondere Artikel sollen darüber ein Näheres enthalten. Es kommt uns hier nur darauf an, die formellen Gesichtspunkte derselben anzugeben, zu zeigen, welche Forderungen die Zeit an die Kritik richtet und welch ein in die Augen fallendes Bild sie dem Künstler darzustellen hat. Ueber Musik schreibt heut zu Tage fast ein Jeder. Wer sich einiger Stylgewandtheit rühmen kann, wer als Belletrist aufgetreten ist und somit den Boden der Kunst berührt hat, oder, was noch schlimmer ist, wer eine allgemein journalistische Feder führt – ein Jeder schreibt über Musik. Diese heilige, himmlische Kunst mit ihrem geisterhaften, ahnungsvollen Wehen, das tief in jede empfindende Brust dringt; diese mystische Orakelsprache, deren Deutung freilich immer nur den Eingeweihten möglich ist, von der aber doch alle Welt mächtig ergriffen wird, – sie bildet einen Tummelplatz für correspondirende Literaten und eifrige Neuigkeitskrämer. Und in der That ist wohl nichts leichter, aber auch sobald nicht etwas schwerer, als über Musik zu schreiben. Die Pforte, durch welche man in das Reich der Töne eingeht, ist sehr breit, und Viele sind, die sich zu derselben hindrängen. Aber der Weg wird immer schmaler, je näher man dem Ziele kommt. Viele müssen umkehren, sie mögen wollen oder nicht. Unterlassen wir den Entwurf eines unerquicklichen Bildes! Statt dessen nur einige Andeutungen über die Form und das Wesen der Kritik. Unsere Kritik sei positiv, scharf und bestimmt, kein refeirirender Theaterzettel, überall selbstständig, individuell, so dass man in der Meinung die Person des Kritikers achte und ehre. Der Kritiker spreche Ansichten aus und zwar seine eigenen, er begründe sie, er verfahre principiell. Lässt sich das Princip seines Urtheils nicht halten, so wird mit diesem das Urtheil von vorn herein fallen. Es falle immerhin. Das ist besser, als vages Hin- und Herreden. In der Musik wird jede Seite derselben, das musikalische Kunstwerk, der ausübende Künstler, ja selbst das musikalische Instrument der Kritik unterworfen. Auf diese Weise erscheint ihr Gebiet sehr reichhaltig. Wenn gleich wir dasselbe nach allen Seiten hin zu vertreten gedenken, soll doch der artistische Theil der Kunst vorzugsweise den Stoff liefern. Was die ausübende Kunst anlangt, so unterliegt die Feststellung der Principien der Kritik keiner so grossen Schwierigkeit. Der Fortschritt in der Technik lässt sich verfolgen; welchen Einfluss diese in ihrer Vollendung auf den Ausdruck des musikalischen Gedankens ausübt, lässt sich hören. Und wer Ohren hat zu hören, der hört es gewiss, sowohl beim Virtuosen des Gesanges wie des Instruments. Da, wo die Musik sich mit der dramatischen Kunst verbindet, tritt nun freilich noch ein neues Element hinzu, das der Darstellung. Allein auch hier stehen die auf Anschauung begründeten Gesetze der Schönheit so fest, dass die Kritik nicht Gefahr läuft, gegen den Künstler ungerecht zu werden, wenn sie scharf und bestimmt auftritt. Bedenklicher wäre die Sache in Bezug auf die musikalischen Compositionen. Wir setzen voraus, der Componist beherrsche die Form des Ausdrucks vollständig, über grammatische, theoretische Fehler sei er hinweg, er führe seine Gedanken mit Geschick durch. Und dennoch werden wir gegen ihn uns kritisch erklären können, nicht, weil sein Werk schlechthin tadelnswerth ist, sondern weil es unter dem gegenwärtigen Standpunkte der Kunst steht, Für einen schaffenden Künstler giebt es kein ungünstigeres Urtheil, als wenn man von seinem Werke sagt: „Schon da gewesen.“ Was heisst das? Sein Werk bietet nichts Neues in der Erfindung der Melodie, seine harmonischen Combinationen sind durchaus bekannt, seine Rhythmik ist gewöhnlich, seine Zusammenstellung der Instrumente bietet nichts Originales. Kann man dies nachweisen, kann man die Anknüpfungspunkte, die Schule der Vorzeit auffinden; tritt uns ein entschiedener Mangel an Selbstständigkeit entgegen, so sind wir mit dem Werke fertig, die Schärfe und Bestimmtheit des Urtheils erscheint hinlänglich motivirt. Man missverstehe uns indess nicht. Zur Motivirung eines Urtheils können noch allerlei Rücksichten hinzutreten. Der Künstler ist Anfänger. Als solcher lehnt er sich an einen Meister an. Dies verdient Anerkennung und Nachsicht. Dann aber dringen wir auf Emancipation, auf freie Bewegung des musikalischen Schaffens, im Namen des Fortschritts und der freien Entwickelung der Kunst. Wir sind der Meinung, dass in der untergeordnetsten Kunstform, in einem Walzer oder was es sei, wahrhafte Originalität an den Tag gelegt werden könne. Oder der schaffende Künstler liefert uns eine bestimmte Tendenzcomposition. Er will ein Uebungsstück für Schüler schreiben, er will als praktischer Musiklehrer einen methodischen Unterrichtsgang geben. Immerhin werde eine solche Arbeit auf ihrem Standpunkte anerkannt und nicht verworfen, weil sie etwa in ihrem musikalisch-schöpferschen Theile der Originalität entbehrt. Endlich aber werden unsere Leser noch einmal fragen: Was ist musikalischer
Otto Lange: Vorwort (Neue Berliner Musikzeitung 1846). Ed. Bote & G. Bock, Berlin 1846, Seite 2. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Neue_Berliner_Musikzeitung_01_1846-47.pdf/010&oldid=- (Version vom 16.5.2018)