Schriftsteller beginnen ein neues Werk nicht selten mit den Worten: „Einem längst gefühlten Bedürfnisse abzuhelfen“ u. s. w. Auch wir könnten so beginnen. Allein wir vermeiden ein solches Vorwort. Es würde von uns den Nachweis jenes Bedürfnisses verlangen, und der liesse sich nicht anders liefern als durch eine oppositionelle Stellung, die wir von vorn herein gegen bestehende musikalische Zeitschriften einnähmen. Wozu die frischen Kräfte, welche sich bei dem Unternehmen betheiligen, sogleich in einen Kampf verwickeln? Ist doch die Zeit so reich an negativen Elementen, dass wir uns ihnen schwerlich werden entziehen können! Es spreche also die neue Zeitschrift für sich selbst durch ihren Inhalt. Das, was sie von andern unterscheidet, wird sich bald herausstellen. Im Allgemeinen aber sei der Standpunkt, welchen wir zu vertreten beabsichtigen, als der des musikalischen Fortschritts bezeichnet. Was ist Fortschritt? Eine schwierig zu beantwortende Frage; hat doch neulich irgend Jemand zu deduciren gesucht, dass in den meisten Fällen der Rückschritt recht eigentlicher Fortschritt sei. Und nun gar musikalischer Fortschritt! Etwas Wahres ist freilich daran. Man sollte in den meisten Fällen sagen: Andersschritt oder auch Neuschritt. Damit wird die Sache aus ihrer inhaltlichen Sphäre in das Gebiet der Formen übertragen, und wo hat man es mehr mit den Formen, mit formellen Gestaltungen zu thun als gerade in der Kunst?
Alles wiederholt sich ja im Leben,
Ewig jung bleibt nur die Phantasie!
Es kommt nicht sowohl darauf an, dass man neue Gebiete erobert, als vielmehr darauf, dass man auf den vorhandenen Neues gestaltet. Neue Formen sind das eigentliche Zeichen der Originalität in der Kunst. Die Technik der Instrumente mag noch so weit ausgebildet, zu den vorhandenen mögen noch so viel neue Instrumente erfunden werden: dies bringt keinen Fortschritt in der Kunst zu Wege, obwohl es ihm förderlich sein kann. Wir kommen im Laufe unsres Vorworts auf diese Frage zurück, und um nicht vorzugreifen, geben wir der Uebersicht wegen das Programm unserer Zeitung mit einigen Bemerkungen über die Art und Weise, in welcher wir die neue Musik-Zeitung auszustatten gedenken.
Der leitende Artikel. – Wir verstehen darunter eine möglichst gedrängte Abhandlung über einen Gegenstand aus der musikalischen Gegenwart. Wie in einer politischen Zeitschrift der leitende Artikel die politischen Bewegungen und Ereignisse der Gegenwart auf ein Princip zurückzuführen sucht und damit die Wirklichkeit aus ihren zerstreuten Momenten zu einer philosophischen Einheit erhebt, so scheint uns die Aufgabe eines leitenden Artikels für eine Musikzeitung darin zu bestehen, den musikalischen Ereignissen und Erscheinungen der Gegenwart durch eine principielle Behandlung eine sichere, musikalisch-wissenschaftliche Basis zu geben. Von diesem Gesichtspunkte aus werden unsere leitenden Artikel ihren Stoff aus dem Kunstleben der Gegenwart entnehmen. Dieses wird von ähnlichen Gegensätzen wie die politische Gegenwart getragen. Die Richtungen der Composition sind überaus mannigfaltig, die Theorie der Musik beruht auf verschiedenen Principien, das Virtuosenthum und die praktische Ausübung der Kunst verfolgen ihre eigenen besonderen Wege. Auf der einen Seite entschiedene Missbilligung solcher Kunstrichtungen, die sich in hohem Maasse Geltung zu verschaffen gewusst haben, auf der andern Seite unbedingtes Lob derjenigen Arbeiten und Leistungen, die auf einem bereits veralteten Standpunkte stehen, und umgekehrt, der vielen dazwischen liegenden Mittelstufen gar nicht zu gedenken! Wenn es auch nicht in dem Wesen
Otto Lange: Vorwort (Neue Berliner Musikzeitung 1846). Ed. Bote & G. Bock, Berlin 1846, Seite 1. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Neue_Berliner_Musikzeitung_01_1846-47.pdf/009&oldid=- (Version vom 6.9.2019)