Durch die historische Entwicklung, die zu Beginn dieser Darlegungen kurz skizziert worden ist, war in dem großen mittelalterlichen Polenreiche die Einwanderung der Juden aus dem Westen begrüßt und erleichtert worden, weil die neuen Ankömmlinge aus den in der Kultur höherstehenden Rheinischen Gebieten die Fähigkeiten des Handwerkers und des Kaufmannes mitgebracht hatten. Die westlichen Juden wurden im Osten zunächst zu Kulturträgern, weil sie über Fähigkeiten verfügten, die der dort bereits ansässigen Bevölkerung noch fehlten. In diesen Berufen hielt alsdann das Zarentum die Juden fest und zwar mit Gewalt; es hinderte namentlich im ausgehenden Neunzehnten Jahrhundert die Juden auf das Land zu ziehen und sich mit Landwirtschaft zu beschäftigen. Und nun als die Sowjet-Gesetzgebung einsetzte, unterband sie wiederum die Tätigkeit der Einzelnen als Händler und Vermittler im weiten Umfang und machte durch diese Maßregeln erneut die Juden in sehr großer Zahl brotlos.
Die Lage für die Juden war damit die folgende: Zusammengedrängt in Polen und in den Westgebieten Rußlands, in Städten und in kleineren Ortschaften waren sie in ihrer Tätigkeit als kleine Vermittler im Handel durch den prinzipiellen Standpunkt der Moskauer Regierung wirtschaftlich ihrer Basis beraubt, oder doch fast beraubt. Da der Handel zum Staatsmonopol geworden war, verloren die Juden in weitem Umfang ihre Existenzmöglichkeit. Waren sie arm seit Langem, so verarmten sie jetzt vollständig; und diese Verarmung wurde noch gesteigert durch die Zusammenballung der jüdischen Massen auf verhältnismäßig engem Raum in den Westgebieten Rußlands. Die Juden wurden durch die Sowjetregierung nicht gehindert, sich aus der Enge zu flüchten;
Paul Nathan: Das Problem der Ostjuden. Philo Verlag und Buchhandlung GmbH, Berlin 1926, Seite 24. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Nathan-Das_Problem_der_Ostjuden_(1926).djvu/24&oldid=- (Version vom 1.8.2018)