Nachdem die bisherigen polnischen Regierungen das Land finanziell an den Rand des Abgrunds gebracht hatten, ist nunmehr durch einen revolutionären, „trockenen“ Umsturz Pilsudski der Präsident des Staates geworden, und es wäre nicht ausgeschlossen, daß er eine moderne Politik zu verfolgen geneigt ist, – und zwar auch in Bezug auf das jüdische Element in Polen. Das sind Möglichkeiten, für die es leider sichere Unterlagen nicht gibt.
Endlich die Union der Sowjet-Republiken.
Seitdem die inneren Kämpfe in Sowjet-Rußland aufgehört haben, seitdem der revolutionäre Ansturm gegen die Sowjets überall niedergeschlagen worden ist, gibt es in dieser mächtigen Republik des Ostens antisemitische Ausschreitungen nicht mehr. Unter den ukrainischen Banden, unter den Heeren der Gegenrevolution hatten die Juden furchtbar zu leiden; damals fanden wiederum Abschlachtungen von Tausenden und Tausenden von Juden im Süden von Sowjet-Rußland seitens der Führer gegen Moskau statt. Seitdem die Sowjet-Republiken unangefochten die Sieger sind, haben diese Massakres und diese Plünderungen, bei denen ganze Ortschaften zu Grunde gingen, und die Ueberlebenden, vor allem die Kinder in die Wälder flüchteten, vollständig aufgehört. In Sowjet-Rußland sind seitdem die Juden Bürger wie jeder andere Bürger mit allen Rechten, freilich auch mit allen jenen Beschränkungen, denen alle Bewohner des Staatsgebietes unterworfen sind.
Es muß festgestellt werden, daß das Rußland der Sowjet-Republiken die Juden auf seinen Territorien Sonderbeschränkungen nicht unterwirft; der Jude ist nicht mehr ein Staatsbürger minderen Rechts; er hat alle Rechte ohne Ausnahme jedes Bürgers der Sowjet-
Paul Nathan: Das Problem der Ostjuden. Philo Verlag und Buchhandlung GmbH, Berlin 1926, Seite 19. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Nathan-Das_Problem_der_Ostjuden_(1926).djvu/19&oldid=- (Version vom 1.8.2018)