Sommer 1906 haben alle Ausschüsse die Sammeltätigkeit eingeleitet. Die Regierung hat für dieses ganze Unternehmen ungefähr 20000 Kronen fürs Jahr bewilligt.
Auf Grund des schon erwähnten Entwurfes hat Pommer eine ausgezeichnete „Anleitung zur Sammlung und Aufzeichnung von Volksliedern“ fertiggestellt. Hier wird zunächst der Gegenstand der Aufsammlung genau bestimmt: Weltliche und geistliche Volkslieder, Balladen und Liebeslieder, Vierzeiler, Arbeitslieder, Lieder zu Bräuchen und Volksschauspielen, Tänze, Rufe, Jodler und Juchezer; alles mit den Singweisen. Auch Sprüche, Scherzpredigten und Sprichwörter. Kurz zusammengefaßt: „Zu sammeln ist alles und jedes, was das Volk an Volksdichtung und Volksmusik noch besitzt und einstens besaß.“ Ferner finden wir hier eine kurze Darlegung der Begriffe Volkslied und volkstümliches Lied mit Beispielen; genaue Anweisungen für die Aufzeichnung der Singweisen und Belehrungen über Rhythmus, Tonart, Begleitung, ferner über Sammlung handschriftlicher und gedruckter Liederbücher und Flugblätter. Dem letzten Abschnitt „Wie macht man das Volk mitteilsam?“ folgt ein Fragebogen mit 22 knapp gehaltenen Fragen.
Diese allgemeine Anleitung wurde dann von den übrigen deutschen Ausschüssen, den Rumänen in der Bukowina und den Ladinern in Tirol je nach den gegebenen Verhältnissen unwesentlich abgeändert. Die Arbeitsausschüsse der anderen Nationen haben auf Grund des ersten Entwurfs selbständige Anleitungen verfaßt. Der Leiter des slowenischen Ausschusses hat sogar einen Fragebogen von vielen tausend Fragen dem Unterrichtsministerium zur Drucklegung unterbreitet.
Von den bisherigen Ergebnissen der übrigen deutschen Arbeitsausschüsse kann ich nur weniges mitteilen, nämlich das, was ich den Angaben, die in Pommers Zeitschrift erschienen sind, entnehme. Der Vorsitzende des Ausschusses für Niederösterreich, Karl Kronfuß, hat in einem Vortrag (Februar 1908) mit Recht betont, daß man nur von einem tirolischen, steirischen, kärntnischen Volkslied spreche, doch nie von einem niederösterreichischen, als ob dieses Land nichts zu bieten hätte. Er weist nun auf Grund der neuesten Sammelergebnisse, worunter sich auch über hundert Tänze befinden, an vielen Beispielen nach, daß das niederösterreichische Volkslied an Reichhaltigkeit den Alpenländern nicht nachstehe, sondern sie an Mannigfaltigkeit übertreffe, und ferner, daß die Harmonisierung der Volksweisen besonders eigenartig sei. In Tirol haben einzelne Sammler ungemein viele Volkslieder zusammengebracht: so Adjunkt L. Pirkl 1250, Prof. N. Neßler 1200, Kurat J. Bacher 500 Lieder – fast alle mit den Melodien –, ferner der Chormeister E. Lucerna über 100 Tänze. Nach dem bisherigen Ergebnis von 4000 Volksliedern schätzt der Vorsitzende Prof. J. Wackernell den gesamten Liederbestand auf 20000 Stück. Er rühmt in seinem Bericht die fleißige Mitarbeit seiner Studenten (Germanisten) und wundert sich, daß gegen alle Erwartung die Volksschullehrer dort wenig leisten. In Steiermark und Kärnten haben sich eine große Zahl von Sammlern zur Verfügung gestellt. In der Steiermark wurden bis zum Herbst 1907 gegen 1300 Lieder, darunter 130 geistliche, 330 weltliche erzählende Lieder mit 150 Singweisen, gegen 600 Schnaderhüpfel, 2 Volksschauspiele, viele Reimsprüche, über 20 Jodler und 100 Tänze – ungerechnet die von Pommer schon in früheren Jahren und kürzlich gesammelten Weisen – gezählt. In Kärnten haben zwei Sammler besonders viel zustande gebracht: Bürgerschuldirektor
Oskar Dähnhardt (Red.): Mitteilungen des Verbandes deutscher Vereine für Volkskunde Nr. 8. Richard Hahn (H. Otto), Leipzig 1908, Seite 14. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Mitteilungen_des_Verbandes_deutscher_Vereine_f%C3%BCr_Volkskunde_8.djvu/14&oldid=- (Version vom 1.8.2018)