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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 6

Korrespondenzblatt zum sechsten Band.
(Ausgegeben am 9. Dezember 1886.)

Baron v. H. in St. Petersburg. Sie vermissen im Artikel „Deutschland“ eine Angabe über die Zahl der im Ausland lebenden Deutschen. Das Wesentliche darüber ist jedoch im Eingang des Abschnittes „Auswanderung“ (S. 811) dargestellt; von einer ausführlichern Behandlung der Frage haben wir, so verlockend auch eine solche Aufgabe erschien, nach reiflicher Überlegung abgesehen, nachdem wir uns überzeugten, daß jeder Versuch einer ziffermäßigen Darstellung zu einem Fehlschlag führen mußte. Die Zahl der im Ausland lebenden Deutschen ist für viele Länder nicht einmal durch Schätzungen festgestellt, und wo solche Schätzungen vorliegen, da gehen sie häufig so weit auseinander, daß man ihre Zuverlässigkeit billig anzweifeln muß. Die offizielle Statistik (so auch die in den „Monatsheften zur Statistik des Deutschen Reichs“ 1884, S. VIII veröffentlichte) beschäftigt sich ausschließlich mit denjenigen, welche im Deutschen Reiche geboren sind; sie beachtet demnach gar nicht deren häufig sehr zahlreiche Nachkommenschaft, weil diese als Bürger des neuen Landes gelten, oder sie gibt aus den Matrikeln der Gesandtschaften und Konsulate nur die Staatsangehörigen des Deutschen Reichs an. Weder die eine noch die andre Rubrik dieser offiziellen Angaben liefert uns einen Anhalt für die Beurteilung des wirklichen Bestandes der deutschen Nationalität im Ausland. Beispielsweise werden in der offiziellen Statistik der Vereinigten Staaten von Nordamerika nach der Zählung von 1881 als in der Union wohnhaft, aber im Deutschen Reiche geboren 1,966,742 Seelen aufgeführt. Diese Zahl repräsentiert indes keineswegs alle dort lebenden Personen deutscher Abkunft, selbst wenn man diejenigen ausschließt, welche im Lauf der Zeit das Gefühl ihrer ursprünglichen Stammesangehörigkeit bereits verloren haben. Nach F. Ratzel sind es mindestens 4, nach andern sogar 7–8 Mill. Menschen, welche in den Vereinigten Staaten die deutsche Sprache als Umgangssprache gebrauchen, und in denen sich deutsches Bewußtsein noch frisch erhalten hat.

Ganz ähnlich ist es in Südamerika. In Brasilien ermittelte die offizielle Statistik nur 44,087, in Argentinien nur 4997 Deutsche, während nach völlig zuverlässigen und übereinstimmenden Angaben von Kennern dieser Länder in dem ersten 150–200,000, in dem zweiten 54,000 Deutsche wohnen. Die Zählung von 1881 fand für die australischen Kolonien mit Einschluß von Neuseeland 42,129 in Deutschland Geborne; auf die Statistik der dort vertretenen Konfessionen gestützt, welche einen sehr guten Anhalt gibt, würde man aber recht gut 100,000 Deutsche für ganz Australien herausrechnen können. Daß die Zahl 40,371, welche die Zahl der Deutschen in Großbritannien repräsentieren soll, weit hinter der Wirklichkeit zurückbleibt, bedarf keiner weitern Ausführung; es sind eben damit nur die in Deutschland Gebornen gemeint. Diese Beispiele ließen sich vervielfältigen.

Während so die offizielle Statistik für die Gebiete, welche sie behandelt, Erschöpfendes nicht zu geben vermag, läßt sie uns bei andern völlig im Stiche. So mußte sie davon abstehen, die sehr bedeutende Zahl der im russischen Reich lebenden Deutschen zu bestimmen. Im Hinblick auf die Kulturarbeit, welche die Deutschen dort seit Jahrhunderten vollbracht haben, im Hinblick aber auch auf die Bestrebungen, welche sich gegenwärtig dort geltend machen, alles Deutsche zu russifizieren, wäre eine genaue Angabe aller Deutschen im russischen Reiche gewiß von großem Interesse. Als offizielles Material liegt nur die Angabe über die mit Pässen in das europäische Rußland ein- und ausgewanderten deutschen Staatsangehörigen vor. Danach verblieben in Rußland 1857–81 jährlich ca. 38,000, speziell 1872–81: 406,181 Personen deutscher Nationalität. Rittich und Wenjukow haben sich beide mit Berechnung des Zahlenbestandes der Völker beschäftigt, welche das russische Reich bewohnen. Nach ihnen lebten im europäischen Rußland 983,471, in den Kaukasusländern 8876, in Sibirien 5060, in Zentralasien 236 Deutsche. Diese Berechnung wird von andern aber als viel zu niedrig angesehen und behauptet, daß mindestens 1,250,000 Deutsche im russischen Reich leben. Auf die Ostseeprovinzen, auf welche die Russifizierungswut sich gerade jetzt ganz besonders richtet, entfallen davon etwa 200,000 Deutsche aus einer Gesamtbevölkerung von (1882) 2,196,396 Seelen. Eine sehr starke deutsche Bevölkerung haben Petersburg und die in dessen Nähe liegenden deutschen Kolonien (ca. 66,000 Köpfe), am stärksten ist aber das deutsche Element (260,000 Seelen) bei Saratow vertreten, dann am Schwarzen Meer, in Transkaukasien, in Wolhynien, in Polen (400,000) etc. Andre in der offiziellen deutschen Statistik nicht berücksichtigte Länder sind Rumänien, wo vor dem Hinzukommen der Dobrudscha 39,000 Deutsche gelebt haben sollen; in der Dobrudscha leben 2471 Deutsche; ausgelassen ist auch Britisch-Amerika, dessen deutsche Bevölkerung der letzte Zensus von 1881 auf 254,319 Seelen angibt.

Handelt es sich aber um eine Feststellung des numerischen Bestandes aller Angehörigen deutscher Nationalität, so dürfen wir auch Österreich-Ungarn und die Schweiz nicht vergessen. In Österreich zählte man 1880: 8,008,864 Deutsche, in Ungarn 1,798,373, also im ganzen Kaiserreich 9,807,237 Deutsche. In der Schweiz, wo, wie in Ungarn, die Umgangssprache maßgebend war, wurden 1880: 2,030,792 Deutsche gezählt. Mit Hinzurechnung dieser beiden großen Gebiete und mit Berücksichtigung der nach den verschiedensten Ländern seit langen Zeiten gerichteten Auswanderung wird man nicht fehlgehen, wenn man die Zahl aller Deutschen auf der Erde zu rund 66–67 Mill. Individuen veranschlagt, eine Zahl, die sich auf 70½ Mill. erhöht, will man die Niederdeutschen in Holland mit seinen jetzigen und ehemaligen Kolonien, in Belgien und in Frankreich hinzurechnen.

Em. M. in Wien. Ein Werk, welches die Geschichte des Sozialismus in dem von Ihnen gewünschten Umfang und, wollen wir gleich hinzufügen, in der Art behandelt, wie es Ihren Zwecken am vollständigsten entsprechen dürfte, vermögen wir Ihnen leider nicht anzugeben. An Spezialarbeiten, welche sich auf einzelne Länder beschränken, fehlt es nicht; diese geben aber für diesen Zweck zu viel oder zu wenig. – Auch Ihre zweite Frage können wir nicht in befriedigender Weise beantworten. Die Fabrikgesetzgebung der Staaten des europäischen Kontinents stellte Lohmann 1878 in einem im Verlag von F. Kortkampf in Berlin erschienenen Werk dar. Inzwischen hat freilich die Gesetzgebung wieder mehrfache Änderungen erlitten. Unser ausführlicher Artikel „Fabrikgesetzgebung“ wird voraussichtlich Ihren Wünschen in zureichendem Maß Rechnung tragen.




Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 6. Bibliographisches Institut, Leipzig 1887, Seite 1026. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_b6_s1025.jpg&oldid=- (Version vom 6.7.2021)