verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 3 | |
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welcher die Wissenschaft oft durch ein einziges Experiment mächtig fördert. Es erscheint als die nächste Aufgabe der synthetischen C., möglichst zahlreiche Verbindungen der einzelnen Elemente zusammenzusetzen und ihre Eigenschaften zu studieren; denn erst dann kann man von einer befriedigenden Kenntnis eines Elements sprechen, wenn man nach den verschiedensten Seiten hin sein Verhalten gegen andre Elemente und Verbindungen erforscht hat. Die Zahl der möglichen Verbindungen ist aber eine so überwältigend große, daß an eine Erschöpfung gar nicht gedacht werden kann. Schon jetzt sind viele Tausende von neuen Körpern beschrieben worden, und ihre Zahl wächst täglich. Aber es ist eine große Wandlung in den Ansichten und Absichten der Chemiker eingetreten. Man verwirft heute das Streben entdeckungslustiger Laboranten, welchen es nur um Darstellung vieler bis dahin unbekannter Verbindungen zu thun ist, und man verlangt im Gegenteil vom denkenden Chemiker, daß er sein Streben auf die Beantwortung allgemeiner Fragen richte, auf die Darlegung gesetzmäßiger Beziehungen zwischen bekannten Körpern und auf die Erforschung der wahren Natur der dargestellten Verbindungen. Die ganze heutige C. basiert auf der Annahme, daß die Körper aus unteilbaren kleinsten Teilchen bestehen, aus Atomen, welche zwar nicht isolierbar sind, deren Gewicht sich aber durch Erforschung der quantitativen Zusammensetzung der Körper bestimmen läßt. Wenn 1 Atom Sauerstoff 16 wiegt, so wiegt 1 Atom Schwefel 32 (s. oben), und wir haben gesehen, daß schweflige Säure, jenes Gas, welches sich beim Verbrennen des Schwefels durch seinen erstickenden Geruch bemerkbar macht, aus 1 Atom Schwefel und 2 Atomen Sauerstoff besteht. Eine sauerstoffreichere Schwefelverbindung, die Schwefelsäure, enthält auf 1 Atom Schwefel 3 Atome Sauerstoff. Ein Atom Eisen bildet mit 1 Atom Sauerstoff Eisenoxydul, während 2 Atome Eisen mit 3 Atomen Sauerstoff zu Eisenoxyd sich vereinigen. Dies sind sehr einfache Verhältnisse, aber es gibt auch viel kompliziertere, und es besteht z. B. das Alkaloid der Chinarinde, das Chinin, aus 20 Atomen Kohlenstoff, 24 Atomen Wasserstoff, 2 Atomen Stickstoff und 2 Atomen Sauerstoff. Offenbar ist mit dieser Erkenntnis schon viel gewonnen, aber bei weitem noch nicht alles. Man muß auch wissen, wie jene Atome gruppiert sind. Die Notwendigkeit solcher Kenntnis zeigen recht deutlich die isomeren Körper, d. h. diejenigen, welche bei gleicher prozentischer Zusammensetzung sehr ungleiche Eigenschaften besitzen. Essigäther und Buttersäure ergeben bei der Analyse eine Zusammensetzung aus 4 Atomen Kohlenstoff, 8 Atomen Wasserstoff und 2 Atomen Sauerstoff; aber durch Geruch und Geschmack, spezifisches Gewicht, Siedepunkt und ihr Verhalten gegen andre Körper unterscheiden sie sich auf das deutlichste, und dies Rätsel kann nur gelöst werden, wenn man erforscht, in welchen nähern Beziehungen die Bestandteile der beiden Körper zu einander stehen. Dann ergeben sich charakteristische Atomgruppen, welche die Natur der einzelnen Verbindungen bestimmen und ihr Verhalten zu andern Körpern voraussehen lassen. Die Erforschung solcher Verhältnisse, der Konstitution oder Struktur der Verbindungen, ist die jetzt am eifrigsten gepflegte Aufgabe der wissenschaftlichen C., und die Resultate, welche auf diesem Gebiet gewonnen wurden, sind höchst bedeutende. Wie einst der Astronom Leverrier aus theoretischen Erwägungen die Existenz eines Planeten nachwies, der dann auch von Galle an dem durch Rechnung gefundenen Ort entdeckt wurde, so haben die Chemiker in zahlreichen Fällen Verbindungen hergestellt, deren Existenz, ja deren Eigenschaften sie im voraus berechnet hatten. Diese höchsten Leistungen der speziellen, praktischen oder Experimentalchemie sind nur ermöglicht worden durch eifrige Pflege der theoretischen oder allgemeinen C., welche das Aufsuchen des Gemeinsamen, des Gesetzmäßigen in thatsächlich festgestellten Erscheinungen, die Erkenntnis des Zusammenhanges verschiedener Erscheinungen, die Erklärung der Erscheinungen zur Aufgabe hat. Scharf zu trennen sind aber die theoretische und die spezielle C. nicht. Spezielle chemische Thatsachen müssen als Beweise und Beispiele für die Sätze der theoretischen C. angeführt und erörtert werden; die Sätze der theoretischen C. geben umgekehrt oft die Kontrolle für die Richtigkeit einzelner Bestimmungen ab, welche zunächst für die spezielle Erkenntnis einer einzelnen Substanz ausgeführt wurden. Ebenso ist auch die Betrachtung der physikalischen Eigenschaften von der der chemischen nicht scharf zu trennen, weder in der speziellen noch in der theoretischen C. Die Angabe der physikalischen Eigenschaften ist fast unerläßlich, wenn überhaupt eine Vorstellung von einem bestimmten Körper, auch nur um seine chemischen Eigenschaften zu beschreiben, gegeben werden soll. Häufig ist ein Zusammenhang zwischen den physikalischen Eigenschaften und der chemischen Zusammensetzung nachweisbar, und eine genaue Bestimmung der erstern kann in manchen Fällen eine Kontrolle für die richtige Ermittelung der letztern abgeben, so daß die Kenntnis der physikalischen Eigenschaften geradezu als die der chemischen Eigenschaften bestätigend betrachtet werden kann. Diese Beziehungen zwischen chemischen und physikalischen Eigenschaften erforscht die physikalische C.
Der auf alltägliche Beobachtung basierte große Gegensatz zwischen belebten, organisierten, und toten, unorganisierten, Körpern führte auch zu einer Einteilung der speziellen C. in organische und unorganische. Letztere ist die Mineralchemie, sie handelt von den Eigenschaften der die Mineralien, die toten Körper, zusammensetzenden Stoffe, von deren Verbindungen und Zersetzungen, während die organische C. sich mit den Stoffen beschäftigt, aus denen Pflanzen und Tiere bestehen, welche also als Produkte des animalischen und vegetabilischen Lebens zu betrachten sind. Kompliziertheit der chemischen Vorgänge in den Organismen entzog dieselben lange Zeit und entzieht sie zum großen Teil auch noch heute dem vollkommenen Verständnis, und dies veranlaßte die Chemiker zu der Annahme, daß die Elemente in den lebenden Organismen andern Gesetzen gehorchen als in der unbelebten Natur: man sprach von einer Lebenskraft, welche die Verbindungen und Zersetzungen modifiziere, und betrachtete den Tod als den Sieg des Chemismus über die Lebenskraft. Die unter der Herrschaft dieser Lebenskraft entstehenden Verbindungen hielt man deshalb auch für ganz eigentümliche und nahm als selbstverständlich an, daß es niemals gelingen könne, sie außerhalb des Organismus künstlich darzustellen. Nun gelang es aber Wöhler 1828, den Harnstoff aus den Elementen zusammenzusetzen, und seitdem sind sehr zahlreiche organische Verbindungen, Pflanzen- und Tierstoffe, aus unorganischen Körpern durch Synthese gewonnen worden. Sämtliche Bestandteile der Pflanzen und Tiere bis auf das Wasser und die als Asche beim Verbrennen zurückbleibenden bestehen aus Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff, einige enthalten außerdem Stickstoff; aber es gibt auch Verbindungen des Kohlenstoffs, welche im Mineralreich vorkommen, und einige sehr
verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 3. Bibliographisches Institut, Leipzig 1886, Seite 979. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_b3_s0979.jpg&oldid=- (Version vom 1.12.2021)